Von wegen Lost Lyrics! Die Lost Lyrics sind eine Band aus Wolfhagen bei Kassel und schon seit 30 Jahren aktiv. Und pünktlich zum 30. Jubiläum übermitteln uns Holger Schacht, Steffen Knoop und Katharina Neuner mit Freak Preview neue Punkrockhymnen, die eines sicher nicht haben. Verlorene Texte. Dazu sind die Geschichten, die hier dargeboten werden zu gut, die Melodien zu ausgefeilt und die Platte ein Highlight in der Bandgeschichte. Und ob, Lost Lyrics. Wir vom Tough Magazine durften die Songs schon als Master vorab hören (danke nochmal dafür ?) und freuen uns sehr, nach sechs Jahren Pause neue Nordhessische Punkrockhymnen genießen zu dürfen. „Freak Preview“ wird die Scheibe heißen und die Welt um Holger Schacht in deutlich mehr als „in drei Akkorde“ packen und den Hörer oft zustimmend nicken, hier und da traurig zustimmen aber auch oftmals traumhaft abfeiern lässt. Vor Release vom „Freak Preview“ stellten sich die Dame und die Herrschaften von Lost Lyrics einigen Fragen.
Hey ihr lieben von Lost Lyrics. Schön, dass du ihr euch Zeit fürs Tough Magazine nimmt. Wobei erwischen wir euch gerade?
Kati: Ich bin zur Abwechslung mal wieder an der Arbeit – leider auch am Wochenende. Aber wenigstens habe ich da zwischendurch so viel Zeit, dass ich Interviewfragen beantworten kann. ?
Holger: Ich reise gerade durch die Vergangenheit und mache für unsere neue Homepage (www.lost-lyrics.de) eine Liste mit all den Gigs, die wir gespielt haben. Also gerade ein kleiner Boxenstop in der Gegenwart.
Steffen: Ich beantworte gerade deine Fragen. Im Hintergrund läuft die Band RANDY auf meinem Plattenteller.
Für Leute, die euch noch nicht kennen. Beschreibt eure Band in drei Stichwörtern und erklärt, warum ihr genau diese Stichwörter genommen habt.
Kati: – melodiöser Punkrock mit deutschen Texten, – bunte Mischung, weil wir doch sehr unterschiedlich sind, –Bandfamilie, weil wir über all die Jahre sehr zusammengewachsen sind.
Steffen: Punkrock Singalong, Hirn und Herz. Man bekommt unsere Songs recht schnell ins Ohr. Sie sind recht eingängig und oftmals getränkt von Pop Harmonien. Auch wenn die Geschwindigkeit der Lieder nicht immer ein gut ausschauendes Tanzen zulässt ;) Textlich ist es alles andere als banal und regt zum Nachdenken an.
30 Jahre Lost Lyrics und immer noch wütend. Wie seht ihr die Band heute im Vergleich von vor 30 Jahren?
Holger: Die Anfangsjahre waren halt sehr turbulent und schnell. Alles ging Schlag auf Schlag in ziemlich kurzer Zeit: Gründung, Aufnahmen, erste Gigs, erste Umbesetzungen, Label, Veröffentlichungen, Tour. Dagegen läuft das heute im Vergleich alles viel geordneter und sehr verlangsamt ab. Die Grundhaltung, dass wir mit der Musik sowohl ein Lebensgefühl bzw. eine Lebenseinstellung als auch unsere Meinung zu öffentlichen Themen ausdrücken wollen (was einen manchmal auch wütend machen kann), ist aber dieselbe geblieben.
Steffen: Ich habe die Lost Lyrics auch vor meinem Einstieg 2003 schon gehört und auch Live gesehen. Es ging da nie um Wut m.M. nach. Das war schon immer weit weg vom gängigen Parolengedresche anderer Deutschpunkkapellen und eher hin zu einem kritisch denkenden Lifestyle, der mit schönen Harmonien anecken möchte. So ein bisschen wie bei Bad Religion halt. Durchaus ein großer Einfluss. Der Stil der Band hat sich durch die jetzige Besetzung schon etwas verändert, aber man hört nach wie vor heraus, dass das noch immer die Lost Lyrics sind.
Ihr habt unter anderem mit den Bates zusammengespielt, eigene Clubshows absolviert aber auch auf großen Festivals wie dem Force Attack gespielt. Was ist euch persönlich die schönste Live-Erinnerung aus 30 Jahren Punkrock?
Kati: Für mich ist eigentlich nach wie vor jedes Konzert was Besonderes und immer noch kann ich es nicht richtig glauben, wenn ich auf einmal mit Bands die Bühne teile, die ich mit 15 Jahren auf meiner Kompaktanlage gehört habe. Aber auch die „kleinen“ Konzerte mit einstelligen Besucherzahlen machen mir Spaß und auch wenn mich die Jungs jetzt vielleicht für verrückt halten, ist eine der lustigsten Erinnerungen ein Konzert in Frankfurt mit Rockwohl Degowski (eine von Fratz unzähligen Bands) das – hmmm, wie umschreibe ich das denn jetzt … – nicht gerade vor musikalischer Genialität strotzte …. soweit ich mich noch erinnere. ?
Holger: Für mich kein einzelnes Konzert, sondern die Reisen in die ganz frisch „ehemalige DDR“ 1991 und 1992. Das werde ich nie vergessen. Für uns gingen fast die ersten Auswärtsgigs gleich in eine andere Welt. Dort war alles anarchisch, etwas chaotisch, und alles wandelte sich schnell (die Eigentumsverhältnisse waren z.B. noch oft ungeklärt, die Läden kamen und gingen in kurzer Zeit), und bei den Punks war Aufbruchstimmung. Dazu die Andersartigkeit der Städte und Straßen, die Atmosphäre, die dort noch die alte war usw. Für uns war es eh neu, herumzufahren. Und dann gleich sowas. Es war unglaublich aufregend, und wir haben tolle Leute getroffen!
Steffen: Dass Konzerte von uns noch nie „Sold Out“ waren – haha ;)
In dieser Zeit habt ihr auch mit vielen Bands Kontakt gehabt. Einige Bands kommen und gehen gesehen. Was war für euch die größte Überraschung und was die größte Enttäuschung?
Holger: Für mich eine Band für beides: Dass die „Bates“, mit denen ich schon Ende der 1980er die Bühne geteilt hatte, einen Majorlabel-Vertrag angeboten bekamen, fand ich wirklich sehr überraschend. Virgin Records suchten ja eine Nachfolge für „Noise Annoys“ aus Hamburg, und da kamen die Plattenbosse auf unsere nordhessischen Bekannten. Ich sage ganz ehrlich: Zwischen dem Songwriting von Noise Annoys und den Bates, da lagen Welten. Dass die Jungs dann so einen Aufstieg hinlegten, hat mich auch, positiv, überrascht. Und dass sie dann später aus diesem Status so wenig gemacht haben und nicht in der Lage waren, eine langfristige und durchdachte Bandkarriere zu erhalten, das fand ich sehr enttäuschend.
Steffen: Schön zu sehen, dass es viele Bands gibt mit Durchhaltevermögen. Ähnlich wie wir. Es gibt nicht viel zu holen in der heutigen Zeit. Live Konzerte spielen ist schwierig, weil es -zig gute Bands da draußen gibt aber Veranstalter und Zuhörer oftmals nicht bereit sind, diesen unbekannteren Bands eine Chance zu geben. Aus Angst der Laden bleibt leer und die Kassen auch. Das kann man nachvollziehen. Es fehlt m.M. nach der Reiz, etwas Neues zu entdecken. Mich persönlich hat es gefreut, dass PASCOW so „groß geworden“ sind. Wir waren gemeinsam beim Punk im Pott 2005 und kurze Zeit später habe ich ein Konzert mit ihnen in Kassel veranstaltet, mit 17 zahlenden Gästen. Heute zurecht undenkbar. Eine starke Band, mit jeder Platte besser geworden.
2014 hattet ihr die letzte Veröffentlichung mit „Digiphobie“ und nun legt ihr mit „Freak Preview“ nach. Wie kam es zum Albumtitel? Welche Geschichte hat „Freak Preview“?
Kati: Ursprünglich war die Idee für das Album, dass wir wieder ein bisschen back to the roots gehen und alles im Proberaum aufnehmen wollten. Das sollte dann auf einem Tape rauskommen – quasi als eine Art Demotape. Aber dann kam alles anders. Erst hieß es auf einmal, dass unser Proberaum renoviert werden sollte, später dann, dass sie ihn ganz dicht machen wollten. Somit „mussten“ wir doch ins Studio. Danach erkrankte unser Mischer, was zur Folge hatte, dass wir mittendrin eine Pause machen mussten. Und zum krönenden Abschluss tauchte plötzlich so ein blöder Virus auf, der dem Presswerk Probleme machte. Aber was soll’s. Jetzt ist das gute Stück ja doch noch fertig geworden.
Steffen: Der Titel soll auf Textinhalte der Songs aufmerksam machen und natürlich auch Bezug zum Cover, was im Wolfhager Kino entstanden ist, herstellen. Eine Abwandlung von „Sneak Preview“. Es ist leider die Zeit der Freaks, die sich ansammeln und ihren Zorn krakeelen im Netz oder auf der Straße. Die denken, sie wären die Mehrheit und all den Schrott dürfte man jetzt ja kundtun. Sei es bei diesen unsäglichen Pegida Demonstrationen oder wie ganz aktuell bei diesen „Corona Hygiene Demos“ wo sich Verschwörungstheoretiker mit Rechts offenen Antisemiten und Nazis einhaken und die Demokratie angreifen wollen, die sie da dennoch schwadronieren lässt. Da muss man gegenhalten. Wir machen das auf der Platte mit unserem Ventil, der Musik.
Auf dem Album befinden sich kritische Songs aber auch optimistische Stücke. Wie entstehen Songs im Lost Lyrics-Kosmos?
Kati: In der Regel macht Holger die Songs und bringt die dann mit recht konkreten Vorstellungen mit in den Proberaum. Die werfen dann Steffen und ich über den Haufen und wir arbeiten gemeinsam am Arrangement und so. Grundsätzlich werden wir uns aber recht schnell einig!
Holger: Was mich immer wieder überrascht ?…
Mit „Euch zu sehen“ habt ihr einen alten Klassiker neu aufgenommen und der Text ist immer noch aktuell. Wie kam es zu der Entscheidung „Euch zu sehen“ neu aufzunehmen?
Holger: Wie du schon sagst – der Text ist nach wie vor aktuell, und er passt sehr gut zum restlichen Kontext. Auf der „Vor allem“ ist es ja ein ruhigerer Song, aber wir wollten ihn wieder live spielen und haben geschaut, ob wir einen Punkrock-Stampfer draus machen können, und nach einmal durchspielen war es schon passiert…
„Tausend Fäuste“ bezieht klar Stellung. Wie wichtig empfindet ihr heutzutage Songs, die sich klar gegen rechts positionieren? „Tausend Fäuste“ hört sich beinahe an wie eine selbst erlebte Geschichte? Steckt hier tatsächlich eine hintendran?
Kati: Für mich ist es keine Frage, ob man sich gegen rechts positionieren sollte, sondern eine Selbstverständlichkeit, die sich aber nicht nur in Lippenbekenntnissen ausdrücken sollte. Ich will jederzeit mit meinen Möglichkeiten laut dagegen stehen und mein bestes Mittel ist nun mal die Musik und ich selber! Jede Form von Ausgrenzung und Diskriminierung, völlig egal ob von u. a. Migranten, Homosexuellen, Behinderten oder auch von Frauen, gilt es nicht zu tolerieren. Deshalb freut es mich um so mehr mit dieser Platte ein klares Zeichen zu setzen, wo wir als Band, die aus Kassel kommt, wo leider 2 Menschen unter rechter Flagge getötet wurden, stehen.
Holger: Die Geschichte ist, so wie sie hier ist, ausgedacht; aber sie ist ja, leider, sehr real. So Lieder sind immer wichtig. Die Bedrohung von rechts war ja nie weg, aber ja, sie dürfte derzeit halt so stark wie nie zuvor nach dem Krieg sein. Trotz allen Bekenntnissen der Politik weiß ich nicht, ob sie das wirklich schon verinnerlicht haben.
Steffen: Ganz genau, es gilt aktuell mehr denn je zu zeigen das man dagegen hält und man muss wieder aufstehen, sich zeigen. Aufklären und Verhindern. Vielleicht können wir da mit der Platte unseren Anteil leisten und einen Soundtrack liefern. Wie im Fazit des Songs „1000 Fäuste“. Wir sind nicht alleine und mehr.
„Nach dem großen Wurf“ könnten man fast schon etwas auf die Corona Krise beziehen. Er wurde aber deutlich vorher geschrieben. Welche Geschichte hat der Song über die „neue Zeit“?
Holger: Er entstand aus den apokalyptischen Zukunftsbildern des Klimawandels einerseits und der neuen globalen, atomaren Bedrohung andererseits. Wenn man das zu Ende denkt, muss man zu einer Dystopie kommen. Dass der Virus dann die letzten Überlebenden hinrafft, fällt fast kaum noch ins Gewicht. Dass ein Virus vorkommt, gibt dem Ganzen natürlich etwas Aktuelles.
Ein sehr bedrückendes Lied stellt „Amadou“ dar. Was hat euch bewegt, dieses tolle Stück aufzunehmen?
Holger: Das Bild des toten, zweijährigen Aylan Kurdi am Strand 2015, das habe ich seitdem nie wieder aus dem Kopf gekriegt – das ist auch gut so; und es ist bis heute ja sinnbildlich für die moralische Insolvenz von Europa. Das Bild hat mir wieder mal gezeigt, wie wichtig Bilder sind. Die geben dem Grauen Gesichter. Hinter den Statistiken stecken ja ohnehin immer wirkliche, persönliche Schicksale von Menschen. Eine Geschichte sagt mehr als Zahlen.
Steffen: Ich finde, da ist Holger lyrisch ein großes Ding gelungen. Das ist eine schöne, kleine Kurzgeschichte mit traurigem Ausgang. Bekanntlich ist es aber keine Geschichte sondern verdammte Realität. Leider täglich.
Als Ohrwurm sticht „Punkrock Generation Gap“ heraus. Wie autobiografisch ist das Stück und welche Punkrockhelden habt ihr denn gesehen und welche würdet ihr gerne gesehen haben?
Kati: Ich denke, jeder der sich mit diesem Thema beschäftigt und sich mal mit Leuten, die einer anderen Generation angehören unterhält, wird früher oder später damit konfrontiert, dass es da ein Unverständnis auf beiden Seiten gibt. Auch zwischen Holger, Steffen und mir liegen einige Jahre Altersunterschied. Aber was uns eint ist die Sozialisation, in der wir noch was selber machen mussten und es völlig egal war, wie perfekt es ist. In meiner anderen Band ist die Hälfte der Mitglieder nochmal um einiges jünger und was da nicht High-End ist, wird eher belächelt. „Das hat Charme“ ist nicht viel wert. Die kennen es nicht mehr mit dem Kassettenrekorder Lieder aus dem Radio aufzunehmen und den Moderator zu verfluchen, wenn er in die Songs einfach reinlabert. Oder noch schlimm, das Band deiner Lieblingskassette reißt und du versucht stundenlang, das mit Tesa zu reparieren (was bei mir übrigens nie geklappt hat), weil es keine Möglichkeit gab, die Songs wiederzubekommen. Sie verstehen es auch nicht, wieviel Mut (und auch Wut) es damals bedurfte, sich für diese Subkultur zu „entscheiden“, weil es eben nicht so war, dass ein Iro eine Trendfrisur war, die schon Kinder im Kindergarten tragen können. Irgendwie schade für die heutigen Jugendlichen. Was haben die denn für Möglichkeiten, sich von ihren Eltern abzugrenzen? Da ich so um 1990 angefangen habe, mich in diesen Kreisen zu bewegen, hatte ich das Glück noch einige Bands live zu sehen. Ein großes Highlight war ein Festival 1993 in Northeim auf der Waldbühne mit den Ramones, Siouxsie & the Banshees, The Cramps, Slime usw. The Bates habe ich das erste Mal für 2 DM im nem Jugendhaus in unsere Nähe gesehen.
Holger: Auf einem Open Air in unserer Gegend spielten „Black Flag“ und „Wizo“ zusammen, und nach den Amis tauschte sich fast das komplette Publikum aus. Da dachte ich: Das sagt viel aus und bringt einen Song! Das Stück wird für mich auch immer dann autobiografisch, wenn jemand mich fragt, wer die Band auf meinem T-Shirt war… Ich habe Mitte der 1980er angefangen, Punkrock zu hören. Da trifft man ständig jüngere Leute, die „Blink 182“ für eine sehr alte Band halten. Und das ist auch ganz normal. Ich hätte gerne mal G.G. Allin live gesehen – Heute muss ich sagen: Aus sicherer Entfernung…
Steffen: Ich habe mir im Oktober 2019 das angeblich „letzte“ MISFITS Konzert im Madison Square Garden in New York gegeben. Support waren THE DAMNED und RANCID. Das war zwar ein Mega Event aber hatte was. Der Sound war bei MISFITS wirklich so rumpelig wie auf der Walk Among Us Platte von 1982 und hätte genauso im nahen CBGB’s geklungen. Lustigerweise traf ich Olli Schulz dort und wir haben den Gig gemeinsam gefeiert, da wir als Krauts wohl die Minderheit waren. Ein lustiger Spaß und er ist ein totaler MISFITS Nerd.
Auch ich bewege mich schon sehr lang in dieser Szene und habe viele tolle Bands gesehen, kennen und schätzen gelernt. Es haben sich Freundschaften gebildet. Früher mit Bands wie den FUCKIN‘ FACES (Hallo Butz!), da wir aus einer Region kommen, oder mit TV Smith, für den ich öfters Konzerte in Kassel gebucht habe.
Mit „Heute oder Niemals“ singt ihr mehrstimmig in „Trashmob“. Gerade das Einsetzen von Katis Stimme verwendet ihr auch in anderen Stücken. Ein neuer Aspekt im Lost Lyrics Kosmos oder hat es jetzt gerade gepasst?
Kati: Das hat wohl primär mit mir zu tun. Holger hat schon länger versucht, mich dazu zu bewegen zu singen. Aber ich hab mich nicht getraut und wollte einfach nur gut Bass spielen. Bei „Aus und vorbei“ von der Punchline Party habe ich dann zum ersten Mal mehr gesungen und wir haben dann festgestellt, dass das ganz gut klappt. Über die Jahre bin ich immer mutiger geworden und hab weniger rumgezickt, wenn Holger wollte, dass ich mitmache. Bei dem Song jetzt so ganz ohne Holger zu singen, war trotzdem erstmal komisch, aber es geht. Und dass das mal so ausartet mit so viel Gesinge meinerseits, hat sich Holger bestimmt auch nicht ausgemalt. ?
Ein großer Hit ist „Rest von meiner Wut“. Welche Geschichte steckt hinter dieser Nummer?
Holger: Eine ganz simple, auch autobiografisch. Aber das betrifft wohl alle, die das hier lesen. Gerade im Punk drückt sich das Lebensgefühl durch die Musik aus, das war und bleibt so. Die Platten erklären einem die Welt und irgendwie auch, eine Zeit lang, die eigene Identität. Du bist was du hörst. Aber auch bevor ich Punk gehört habe, galt das schon. Die Beatles und vor allem die Who haben mir z.B. beigebracht, dass man seinen Ärger rauslassen muss um nicht krank zu werden, und dass man sich nicht verstellen darf, wenn man zufrieden sein will. Es gibt unzählige weitere Beispiele – wer kennt das nicht? Es ist die einfachste Nummer von allen, und sie war in 10 Minuten fertig geschrieben. Vom besten Komponisten: Dem Bauch.
Wenn ihr die Welt nicht in drei Akkorde, sondern in drei Worte packen würde. Welche Worte würdet ihr wählen wollen und warum?
Kati: So, jetzt gleitet das Ganze hier noch ins Philosophische? Ach du Scheiße. Ich halte mich da an good old stuff: Glaube (an was auch immer), Liebe (mit wem auch immer), Hoffnung. Der klassische Dreiklang. Warum? Versuche, ohne eins von den 3en zu leben, und es wird sehr trist.
Steffen: Antifaschismus (es gibt keine Alternative, schon gar nicht für Deutschland), Gutmenschentum (das Gegenteil sind Arschlochmenschen und davon gibt es leider genug), Vinyl (die Liebe zur Musik ist rund, genau wie die Weltkugel).
Und welche vierte, fünfte und sechste Worte würdet ihr der Welt gerne wünschen wollen, um den „Rest von deiner Wut“ zu besiegen?
Kati: Warum sollte ich sie besiegen wollen? Wütend sein ist wichtig. Für mich eine sehr wichtige Emotion. Sie bewegt dich dazu zu handeln und etwas zu verändern. Es geht nur darum konstruktive Wege zu finden, der Wut Ausdruck zu verleihen. Gewalt ist nicht konstruktiv.
Holger: Dieter Hildebrand hat den Politikern mal in einem Programm gesagt: „Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Leidenschaft – Ich hätte Ihnen die Ihrige auch gerne verziehen“. Ohne eine Portion Wut keine Leidenschaft, ich sehe das wie Kati.
Mit einer Hymne und dem „Wind, der mich weiter vor sich hertreibt“ beendet ihr euer neues Album. Was treibt euch an, diese Songs nun bald live zu spielen?
Holger: Nun, der Antrieb ist immer, dass man neue, unverbrauchte Lieder spielen möchte. Das hält das Liveprogramm auch für Leute interessant, die uns schon oft gesehen haben. Und man möchte ihnen auch etwas mitteilen, das man vorher noch nicht so gesagt hat.
Wo würdet ihr persönlich „Freak Preview“ einordnen wollen in der Lost Lyrics Diskografie sprich, Wie wichtig findet ihr persönlich die Platte im Vergleich zu anderen?
Kati: Für mich ist es eine sehr wichtige Platte, eben weil die Umstände so waren, wie sie waren. Alles, wirklich alles lief schief und wir haben trotzdem weiter gemacht und nun ist das Ding da. Auch finde ich, dass uns die bei einigen Songs neue, härtere, schnellere Seite gut steht, was mir persönlich sehr entgegen kommt. Ich finde es sehr gut und wichtig, dass wir uns klar positionieren und auch politisch deutlich machen wo wir stehen! Holger hat wieder textlich ordentlich was abgeliefert und Steffen kloppt drauf, als gib es keinen Morgen mehr – zumindest für unsere Verhältnisse. Also alles super!
Steffen: Denke, dies ist eine der besseren LoLy Platten, auch wenn wir auch hier und da noch mehr hätten rausholen können. Es ist schön, dass wir uns beweisen konnten, dass man es noch kann, trotz aller beschriebenen Umstände. Songs basteln, gute Texte schreiben, die den Zeitgeist thematisieren und eine LP veröffentlichen, wo dann auch alle hinter stehen können. Hoffentlich gefällt sie auch euch!
Wie oben beschrieben, werdet ihr im Corona Jahr glatte 30 Jahre alt. Wie und wo findet die 30 Jahre Lost Lyrics Feier statt?
Kati: Leider kann das wohl momentan keiner sagen! Unsere Release-Party in Kassel fiel schon mal flach. Aber wenn wir im letzten Jahr was gelernt haben: Blick nach Vorne und weitermachen. Der liebe Steff von ALARMSIGNAL hat es treffend zusammengefasst: „#wirvermissendas (aber is schon ok)“!
Holger: Für sowas kommt ja nur ein Live-Event in Frage. Kleiner Laden, Kassel. Im Januar 2021 wäre es der 30. Jahrestag unseres ersten Auftritts als Lost Lyrics (zu Dritt im JUZ Wolfhagen). Ob das klappt, ist natürlich aus jetziger Sicht völlig offen.
Steffen: Die große Stadiontour lassen wir auch diesmal außen vor und warten bis unsere Lieblingsclubs wieder öffnen dürfen. Dann feiern wir das Leben (nach Corona) und die Platte ;)
Mal im Ernst, ich habe schon Angst, dass es viele gute Läden nicht schaffen werden und uns dann eine triste Monokultur erwartet. Also alle solidarisch sein und seinen Lieblingsladen supporten mit Spenden etc.
Gerade ein Jubiläum würde sich auch anbieten, ein spezielles Event zum Rückblick durchzuführen. Könntet ihr euch hier etwas wie Lost Lyrics unplugged vorstellen?
Kati: Vorstellbar ist vieles. Unplugged hatten wir schon mal. Ich denke 2012 in München. War nett.
Holger: Bestuhlt, Sicherheitsabstand, altersgemäß… Würde aktuell passen. Danke für die Idee ?.
Steffen: In dem Kino, wo wir zum Bandbilder schießen waren, könnte das glaub ich gut werden. Statt Eis- fährt der Bierwagen durch die Reihen. Aber bitte nicht kleckern, zu schön dort alles um es einzusauen.
Welche Termine gibt es für die Zukunft? Könnt ihr schon was verraten?
Holger: Nein, leider nicht.
Bitte vervollständigt die folgenden Schlagzeilen.
„Die Lost Lyrics spendieren auf „Freak Preview“ …“
Kati: … 14 Songs, die hoffentlich bewegen, betreffen und Spaß machen.
Steffen: …eine Vorstellung die sich gewaschen hat. FSK frei sogar.
„Fratz A Thum kann …“
Kati: … scheinbar fast alles. ?
Holger: …und das in rasendem Tempo…
Steffen: …verdammt ehrlich sein…dafür schätze ich ihn!
„Auf punk.de wird 2020 …“
Holger: …jede Platte rotes Vinyl haben, weil er dazu noch Prinzipien hat, haha.
Steffen: …eine weitere schöne LoLy LP zuhause sein dürfen. Dafür Danke, Fratz!
„Kassel ist im Vergleich zu …“
Kati: … der landläufigen Meinung echt sehenswert.
Steffen: …anderen Ecken im Land gut erreichbar. Kulturell und Grün noch dazu.
„Die Punkrocksensation …“
Kati: … gibt’s für mich nicht.
Holger: …war 1977 (aber dafür bin selbst ich zu jung).
Steffen: …ist jeder, der es sein will!
Was bedeuten euch die folgenden Begriffe?
Seniorenresidenz
Holger: Im Nachhinein immer noch super CD.
Vor Allem
Holger: Im Nachhinein leider nicht gut gelungene CD
Wolfhager Schule
Holger: The roaring Nineties!
Jubiläen
Holger: Dankbarkeit – An alle, die all die Jahre mit mir die Band gemacht haben!
Coburg
Holger: Da wohnt so einer: Matze Noll. Ohne die Musik hätte ich so super Typen nicht kennengelernt.
Hessen Nord
Holger: Sinn für Ironie schadet nie.
Corona Krise
Holger: Leider ernste Bedrohung auch für Veranstalter, Künstler und die Subkultur generell.
Vielen Dank für das Interview. Die letzten Worte gehören euch!
Kati: Vielen Dank für die durchdachten Fragen! ?
Holger: Bleibt gesund – Wir sehen uns!
Steffen: Bleiben Sie (Corona-)Negativ!
Interview von Thorsten im Juni 2020
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