März 2021: Nutoka, Nick Cave und die Zahnarzthelferin

Also, das kann ich schon vorweg verraten: Diese Kolumne wird äußerst kurz. Ich bin nämlich schrecklich durch den Wind, mies gelaunt und furchtbar müde, weil ich wieder die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Ich habe mich schlicht nicht getraut, weil ich inzwischen im Schlaf anscheinend derart mit den Zähnen knirsche, dass meine Kieferknochen jeden Morgen über Muskelkater klagen. Ich war heute sogar schon beim Zahnarzt, wo ein Gebissabdruck für eine Knirscheschiene angefertigt wurde. Während der Zement trocknete, schlief ich dann ein und träumte sofort wieder los. Auch so eine Sache, weshalb ich wohl so knirsche. Immer der gleiche Traum, ein Traum, den ich schon früher in der Kindheit hatte, von dem ich aber bis heute nicht genau weiß, ob ich es dereinst nicht doch wirklich erlebt habe.

Die Szene ist die: Ich bin etwa sieben Jahre alt und sitze nachmittags vor dem Fernseher im Schlafzimmer meiner Eltern. Es läuft ein Science Fiction-Film, den ich nicht begreife, aber trotzdem gebannt gucke, denn es ist ja schließlich ein Science Fiction-Film. Ein Raumfahrertyp geht irgendwann mit gezückter Laserpistole in einen Raumschiffraum und ich ahne, dass jetzt was abgehen wird. Und richtig: Ein anderes, robotoid wirkendes Wesen nähert sich dem Raumfahrertyp, ohne sich um die Laserpistole zu kümmern, und beginnt, den Typen auf den Boden zu titschen, genau wie einen Basketball oder einen Flummi, und folgerichtig verformt sich der Raumfahretyp im Verlauf dieser Behandlung tatsächlich in einen etwas überdimensionierten, aber funktionalen Gummiball.

Wie es weiter ging, kann ich nicht sagen, denn entweder wurde ich zum Essen gerufen oder ich bin aufgewacht, darum frage ich mich seitdem: Habe ich den Begriff „robotoid“ richtig verwendet? Nein, das war nur Quatsch, natürlich will ich wissen, ob es so einen Film wirklich gibt. Ich habe nur stilistisch geulkt. War blöd, ich sehe es ein. Aber die Müdigkeit und das alles, da wird man manchmal albern. Zurück zur Filmfrage: Ich habe seit Jahren immer wieder das Netz danach durchgoogelt, weil es mir keine Ruhe lässt, aber ich fand nur Filmszenen, für die ich damals eine Prise LSD, mindestens aber ein Dutzend große gemischte Tüten Weingummi auf ex benötigt hätte, um sie wie oben beschrieben missinterpretieren zu können. Nahe dran ist zum Beispiel John Carpenters Film „Dark Star“, aber eben nur nah dran. Ich schätze aber, auch Herr Carpenter hatte einen Zuckerrausch beim Dreh. Wie auch immer: Es bleibt mein kleines persönliches Inception light. Ein Grauschleier einer möglichen Realität, der mich wiederkehrend nachts heimsucht und meine Zähne zum Mahlen bringt.

Der Zement ist übrigens inzwischen getrocknet und ich ahne schon, dass das ein Spass werden wird, diese Formschale wieder aus dem Gaumen zu ziehen. Es ist inzwischen doch schon eine gute Stunde vergangen, seit die Zahnarzthelferin mit den Worten „Bin in fünf Minuten wieder zurück.“ den Raum verließ.  Als sie soeben schließlich verträumt eine Melodie summend aus dem Irgendwo ins Behandlungszimmer zurücktänzelte, erschrak sie beim Blick auf die Uhr ganz süß und gab sich redlich Mühe, ihre beginnende Panik zu überspielen. Während sie nun schwitzend auf mir hockt und sich mit Hilfe von Spachteln und roher Gewalt müht, die Formschale aus meinem Maul zu lösen, schweife ich etwas in Gedanken ab und lande wieder als Kind vorm Schlafzimmerfernseher. Diesmal sind meine Eltern dabei und wir schauen zusammen zum Abendbrot eine Unterhaltungsshow. „Wetten, dass,…“ oder „Verstehen Sie Spaß?“ oder Kulenkampff, was weiß ich. Ich trage einen Schlafanzug aus himmelblauem Frottee, aber weil ich weiß, wie schnell momentan Menschen wegen solcher Klischees am Rad drehen, ist der Schlafanzug gelb mit rosagrauen Streifen auf der Brust. Ich esse ein Nutokabrot und es ist nirgendwo so schön, wie daheim, jedenfalls bis dann eine Rockband auftritt. Eine Classic Rock-Gruppe, sehr cool, sehr langmähnig breitbeinig, mit einem stark gestikulierenden Sänger. Eben dieser Sänger schaut nun, mitten beim Singen, plötzlich ernst in die Kamera und sein Zeigefinger zeigt direkt auf mich. Durch den Bildschirm direkt auf mich und meine verschmierten, stupide kauenden Backen! Geschockt fällt mir das Brot aus der Hand, Schokonusscreme klebt auf meinem schönen gestreiften Schlafanzughemdchen, und ich schäme mich fürchterlich. Was muss dieser coole Sänger von mir denken? Er schaut sogar angewidert, das fühle ich, und ich kann ihm nur recht geben: Nutokabekleckert im Frotteeschlafanzug vor den Augen eines so aufrechten Rockers! Wie lächerlich, wie mickrig ich doch bin. Augenblicklich  ist jeder Funken familiär gemütlichen Wohlbefindens in mir ausgelöscht und ich spüre nur noch die Nichtzugehörigkeit, das Ausgestoßensein von allem, was rockt und lässig ist. Ich werde auf ewig nur die Nutokafresse sein, die im Schlafanzug der Action zuschaut. Mich schüttelt es vor Selbstekel derart, dass die Zahnarzthelferin hintenüber kippt und von mir runter purzelt. Allerdings hält sie gleich danach triumphierend die Formschale mit meinem Gebißabdruck in die Höhe und ruft aufgesetzt fröhlich: „Alles super, sieht sehr gut aus!“

Noch benommen verabschiede ich mich und eile nachdenklich heim. Bei mir zuhause sieht es aus wie bei Hempels zuhause, wenn sie gerade noch nicht gespült haben. Besonders, was meine Küche betrifft. Normalerweise spüle ich ständig, denn dann kann ich mir besser vortäuschen, dass alles seine Ordnung hat. In den letzten Tagen fehlte mir aber einfach die Lust und ich empfand sogar eine grimmige Freude dabei, den Geschirrturm stetig weiter wachsen zu sehen. Schon drei Teller, heftig. Weil ich insgesamt nur vier Stück besitze, werde ich aber dennoch gleich spülen, auch deshalb wird die Kolumne diesmal ziemlich kurz. Aber man muss Prioritäten setzen. Ich lege zum Spülen immer am liebsten Country auf, denn Country macht gleich Lust darauf, alles Geschirr  durch die Luft zu werfen und draufzuballern. Weil ich mir das nicht leisten kann, spüle ich deshalb dann noch schneller und spare so Zeit. Danke, Country. Der Nachteil: Wenn man zu schnell ist, übersieht man oft was. Ich habe zum Beispiel das ganze restliche Geschirr übersehen, das sich noch neben meinem Bett häuft. Jawohl, ich esse gern im Bett. Hier stehen alle meine Pfannen, denn ich habe oft Bohnen gekocht, weil das so gut zu der vielen Countrymusik passt, die bei mir andauernd läuft, weil ich nach dem Spülen zu faul bin, die CD zu wechseln, und Bohnen esse ich prinzipiell nur direkt aus der Pfanne, wo kämen wir sonst hin? Was für Bud Spencer recht war, kann uns nur billig sein. Auch Tassen und Gläser stapeln sich hier, insgesamt sieht mein Bettlager gerade echt aus wie die Bettstätte von Hempels, wenn sie es so halten würden, wie ich zur Zeit.

Vor allem aber ähnelt es sehr meinem Jugendzimmer damals, stets kurz bevor ich der mütterlichen Drohung, wenn ich nicht augenblicklich alles Geschirr aus meiner Bude in den Geschirrspüler packen würde, dürfe ich von nun an wieder von Hand spülen, folgte und kistenweise angetrocknete Müslischalen in die Küche zurückbrachte. Ich fand das eigentlich schade, denn erst kurz zuvor hatte ich in dem Magazin „Spex“ ein Bild von Nick Cave aus seiner Berlinzeit herausgeschnitten, auf dem er im Schneidersitz auf einer Matratze zwischen Buchstapeln, leeren Flaschen, Totenschädeln und Haarknäueln saß und sehr glücklich wirkte. Diese Art der Innenaustattung schien mir perfekt für mein Ordnungstalent geeignet und binnen kürzester Zeit hatte sich auch mein spießiges Kinderzimmer in eine Chaosoase eines aufmüpfigen Rebells verwandelt. Schief aufgehängte Plakate an den Wänden und ein Batiktuch über der Schreibtischlampe. Nix mehr mit Frotteeschlafanzug oder Nutoka. Ich fand mich jetzt auch ziemlich lässig, denn auch wenn vielleicht meine nachlässig auf dem Boden verstreuten TKKG-Bücher und Sparkassengratisposter mit Mondlandschaften drauf noch nicht ganz mit den Wasserpfeifen und William Bourroughs-Werken in Mr. Caves Butze mithalten konnten, ich wusste, ich war auf dem richtigen Weg. Und das denke ich auch heute noch. Ausgenommen das schmutzige Geschirr, versteht sich, darum gehe ich jetzt spülen und beende die Kolumne.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of LiedermachingDie Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 15. März 2021 veröffentlicht.

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