Dezember 2021: Christmastime on Dollendorfs Mountain

Ach, Dezember, du Monat voller Festlichkeit: Vollgestopft bis unters Dach, titschst du stimmungsmäßig permanent zwischen Sektquirl-Laune und Zimtplätzchen-Besinnlichkeit, behäbig blubbernd wie schussfreier Glühwein und euphorisch brizzelnd wie Raclette-Fett.

„Raclette-Fett? Raclette-Fett? Oha, da hat wohl heute jermand ein mieses Metaphern-Büchlein gefrühstückt, was?“ spottet nun ein stilsicherer Leser völlig zu recht. Er ist sehr selbstsicher, denn er hat mit seinem jüngsten Facebook-Beitrag 93 Likes kassiert, einer ironischen Bemerkung über die Dauerschleifenbeschallung der Menschheit durch „Last Christmas“ von Wham.  Ich habe den Song in den letzen Jahren nicht einmal zu hören bekommen, aber alle anderen Menschen scheinen im Dezember dauernd ungewollt über ihn zu stolpern. Mysteriös. Wahrscheinlich sind sie alle noch an die dritten Programme ihrer Kofferradios gebunden, die Armen.

Wenn ich ehrlich bin, würde ich mich über ein bißchen „Last Christmas“ sehr freuen, denn Lied und Video transportieren letztlich genau die Atmosphäre, die doch jeder mit Weihnachtsperfektion verbindet: Kerzen, Schnee und Harmonie, und keine Spur von völlereigeplagtem Blähbauch. Das schaffen außer Wham eigentlich nur noch die Werbespots von McDonalds.

Was menschlich etwas fies vom Christkind ist, ist die Tatsache, dass dadurch der Nikolaus so in den Hintergund gedrängt wird, in jedem anderen Monat wäre er vorfreudetechnisch hundertpro ein Renner. So aber, eilig mal vor Heilig Abend gepappt, bleibt er auf ewig die Nummer zwei, allerhöchstens Nr. zwei, denn schließlich gibt es auch noch Silvester, und das knallt eigentlich noch viel mehr, und absolut niemand muss da unter Wham leiden.

Fast noch beliebter als Silvester und Weihnachten zusammen, sind vorweihnachtliche Betriebsfeiern und Schrottwichteln. Ich selbst habe nur einmal an einer solchen Betriebsfeier teilgenommen, voller Vorfreude, weil ich gehört hatte, dass bei solchen Anlässen immer höllisch viel rumgebumst wird, kann dieses Gerücht allerdings nicht bestätigen. Ich war frischgebackener Zivildienstleistender im Krankenhaus, und die prickelnde Mischung aus Betriebsfestlegenden und der Serie MASH hatte in mir eine ziemlich hohe Erwartungshaltung auf erotische Partybegebenheiten aufgekocht.

Statt dessen fand ich mich im Gemeindezentrum am Rednerpult wieder, wo ich vor dem gelangweilten Pflegepersonal einen dreiseitigen hochreligiösen Dialog zwischen einem zweifelnden Wanderer und einem superschlauen Engel vorlesen musste, den mir die Ordensschwester Ambrosia in der Frühschicht mit den Worten, „ich solle bloß keinen Quatsch machen, bei der Aufführung“ in die Hände gedrückt hatte. Da es sich um einen Dialog handelte, sollte ich den Text eigentlich mit der Krankenschwester Alex vorlesen, aber die war gerade mit dem Röntgenassistenten in der Besenkammer beschäftigt. Nach der Show betrank ich mich rasch und kaufte mir am nächsten Tag alle Bücher von Bukowski.

Schrottwichteln hab‘ ich nie kapiert. Soll das witzig sein? Man schenkt einander Scheiß, den man selber im Leben nicht haben möchte. Klingt wie ein Unterhaltungsprogramm, das sich die Menschen damals zur Kompensation ausgedacht haben, weil es noch kein RTL 2 gab.

Wichteln an sich finde ich süß, leider bin ich ein furchtbar schlechter Schenker, weshalb mein Wichtelbeitrag unfreiwillig auch immer zum Schrottwichteln wird. Darum halte ich mich aus solchen Aktionen lieber raus, man will ja niemanden dabei unglücklich machen. Ich hab es dennoch mal geschafft, mit meinem einzigen Wichtelgeschenk ever. Das war in der fünften Klasse und ich hatte die ganze Wichtelei völlig verschwitzt. Am Sonntagabend vor dem großen Tag fand meine Mutter den Wichtelzettel in der Hosentasche meiner Jeans, die sie gerade in die Wäsche werfen wollte.

„Klar hab ich ein Geschenk!“ log ich, als sie mich zur Rede stellte, aber der Nachteil mit Müttern ist, dass sie einen kennen. Sie wollte das Geschenk augenblicklich sehen. Panisch durchpflügte ich mein Hirn nach irgendwas Verschenkbarem in meinem Besitz, das nicht allzu schade zum Weiterverschenken wäre. Mir kam ein Geistesblitz: „Hier…“ Stolz griff ich aus meinem Schreibtischwust ein Hammergeschenk. Einen Super-Ratzefummel, der wie ein Mini-Computerspiel designed war. Sogar mit aufgeklebtem Drei-D -Bild von einem Rennauto drauf. Ich war ziemlich beeindruckt von mir selbst. Meine Mutter nicht ganz so, sie hatte irgendwie einen ganz anderen Blick auf die Dinge. Viel zu faktisch, genau wie ihre Argumente. Sie schimpfte, die Ecken des Gummis seien bereits rundgescheuert, die Farbe der abgesetzten Computerknöpfe schon fast komplett abgenutzt, und ein Radiergummi insgesamt schon ein wahnsinnig mickriges Geschenk, aber in diesem Zustand eine echte Frechheit, selbst für meine Maßstäbe.

„Ja, dann kann ich dir auch nicht weiterhelfen!“ brüllte ich erbost zurück. Schließlich hatte ich mein Bestes gegeben, aber wenn das nicht reiche, na gut, dann müsse es halt irgendwie auch ohne Schule weitergehen, denn ohne Wichtelgeschenk würde ich jedenfalls nicht dahin zurückgehen. Es ging noch eine ganze Weile hin und her, aber tatsächlich fand sich in meinem Besitz nichts, was weniger gebraucht aussah, als dieser Radiergummi, weshalb meine Mutter seufzend die Radiergummikanten mit dem Teppichmesser zurechtschnitt und die Computerknöpfe möglichst genau mit verschiedenen Nagellacken nachpinselte, bevor sie ihn zusammen mit einem (glücklicherweise) unbenutzten Bleistift und einem Lineal mit Comicbienchen drauf, beides aus ihrem Fundus, möglichst opulent verpackte.

Noch heute erscheint mir Sandra Müller oft in meinen Träumen, mit vorwurfsvoller Traurigkeit in ihren Augen, während sie mir anklagend Lineal und Radiergummi entgegen hält und ihre Lippen ein stummes „warum?“ formen. Ich bekam damals übrigens eine Wumme, die beim Schießen ein Fähnchen mit dem Aufdruck „Bang!“ aus der Mündung schoß. Ziemlich gut. Leider habe ich keine Ahnung mehr, wer mein Wichtel war.

Ich freue mich auf Weihnachten, logisch. Alle freuen sich auf Weihnachten, sogar die düstere Gothicdame aus dem Vorstand der Fangruppe der Agnostic Front, die sich täglich Mayhem-Zitate auf die Wangenknochen hennatätowiert, errötet nun und flüstert: „Also, auf Weihnachten freu ich mich natürlich schon.“ Dabei müssten im Grunde inzwischen alle aus Erfahrung wissen, das Weihnachten an den hohen Erwartungen nur scheitern kann. Trotzdem hecheln wir den Tagen entgegen wie Rantanplan Lucky Luke, in der stets irrigen Annahme, ein wahnsinnig duftes Leckerli erwarte ihn.  Ähnlich verhalten wir uns auch zu Silvester, und man kann schon sagen, der Dezember birgt die größten festtagsbedingten Erwartungsblasen des ganzen Jahres. Ausgenommen wieder der Nikolaus, von dem erwartet man eigentlich nix. Ein bißchen Schokolade vielleicht. Aber mehr auch nicht, niemand erwartet von ihm großes Bohei. Bescheiden weilt er im Hintergrund.

„Von wegen!“ ruft nun eine Leserin. Sie trägt ein Shirt von Bad Religion und ein Buch von Sarah Bosetti unter dem Arm, „Der Nikolaus, bzw. Weihnachtsmann, ist doch nur noch ein aufgeblasener Wichtigtuer, ein alter weißroter Mann als Aushängeschild des Konsums. Er ist schlicht eine Erfindung von Coca Cola!“

„Deiner vielleicht.“ entgegne ich unwirsch, „ meiner ist eine Erfindung vom Fußballverein Tus Oberdollendorf. Aber auch jener war eher aufgebläht und erschreckend, als bescheiden, da stimme ich dir zu.“

„Das reicht mir ja schon.“ antwortet die Leserin freundlich, setzt nun ihre Kophörer auf und vertieft sich wieder in ihr Buch. Ich hingegen denke noch ein wenig über die Nikolausfeiern besagten Fußballvereins nach, denen ich als Kind von einem der besten Kicker dort alljährlich beiwohnen musste. Traditionell betrat irgendwann der Niklas den Raum und alle TUS-Kids mussten der Reihe nach den Mittelweg zwischen den endlosen Biertischgarnituren voller hämischer Erwachsener entlang zu ihm spießrutenlaufen, wo er dann mächtig vor einem stand und zeigefingerig diverse Vergehen aufzählte: „Du sollst deine Eltern belogen haben? Und dein Zimmer nicht aufgeräumt haben?“ usw.  Dabei tropfte der Wattebart des Koloss‘ speichelig und die Zeit stand still. Ich war aber weniger verängstigt, als vielmehr peinlich berührt von der ganzen Situation, außerdem empfand ich die Tatsache, dass hier alle Verfehlungen so voyeuristisch entblößt wurden als empörend. Zumal das Procedere immer klar war: Nach der Schlußfrage, ob man sich bessern werde, sagte man ja, und bekam dann irgendeinen Scheiß in Geschenkfolie. Lebkuchen oder sowas. Dagegen war mein Wichtelgummi Gold wert. Jedenfalls empfand ich diese Tradition als eine absolute Tortur.

Mein jüngerer Bruder steckte das in späteren Jahren viel lockerer weg, er hörte dem Rauschebart eine Weile gelangweilt zu, als der aber zum Thema „Katze“ansetzte, unterbrach er ihn genervt, nuschelte „…ja, ja, nicht am Schwanz ziehen, ich weiß.“, griff sich sein Präsenttütchen und marschierte abwinkend zurück zu seinem Platz.

Aber das liegt alles in der Vergangenheit, und dieses Jahr wirds bestimmt wieder ganz toll. Mein Heimatdorf am Fuße des Siebengebirges wird in einer Schneepracht eingebettet liegen, der Baum feierlich geschmückt leuchten, und glückliche Tiere zum Fenster hereinschauen. Die Familie ist komplett und wir fallen uns alle freudig in die Arme. Grandma Cartwright und Mama Kühn werden tonnenweise duftenden Kartoffelstampf und eine superleckere Veggiegans gezaubert haben, denn heuer wird endlich auch meine gesamte Restfamilie vernünftig und mit der unseligen Fleischesserei aufhören. Dafür gibt es reichlich Selbstgebrannten aus alten Fässern, und uns wachsen karierte Flanellhemden und Sporen an den Stiefeln. Zuguterletzt werden wir uns unsere pastellfarbenen Daunenjacken überziehen, und übermütig schneeballwerfend, schlittenziehend zum Kirchenvorplatz tollen, wo sich inzwischen die ganze Gemeinde versammelt hat, um bei Glühwein mit Coca Cola-Schuss dem Chor zu lauschen, der nun endlich – so wie jedes Jahr – das schönste Weihnachtslied der Welt und aller Zeiten singen wird: „Christmastime on Waltons Mountain“.

Und dann wird alles wieder gut. Jedenfalls erwarte ich das. Für mich und für euch und für alle. Macht es gut, und bis zum nächsten Jahr.

In diesem Sinne: „Gute Nacht, John-Boys. Und Girls“


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 17. Dezember 2021 veröffentlicht.

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