Eins muss ich gestehen, bevor ich wieder in meine klassische arrogante Haltung zurückrolle, Szenen richte und Subkulturen aburteile, bevor sich die Selbstherrlichkeit wieder ihren Weg in meine Fingerspitzen bricht und die Tasten drückt, die das Unsägliche in diese Kolumne pressen werden, bevor also die Sätze womöglich wieder in endlosen Aufzählungen und mauen Metaphern auszuufern beginnen, gebe ich kurz und knapp zu:
Ich habe alles, aber auch wirklich alles, was Punk ist und darstellt, komplett falsch verstanden.
Und zwar damals, 1987, als ich vierzehn war und erstmals von Punk hörte. Über meine tatsächliche musikalische Erstberührung mit Punk durch die beiden Schallplatten „Die Ärzte“ von Die Ärzte und „Never Mind the Hosen“ von den Roten Rosen, habe ich bereits erzählt. Nicht euch und hier, ich weiß, sondern an anderer Stelle. Für Hobby-Detektive: Die Stelle befindet sich in einem Buch und das Buch ist nicht von Tommy Jaud, denn es ist ein gutes Buch von einem sehr bescheidenen Autoren, der sich nur manchmal etwas unterrepräsentiert fühlt und darum in Nebensätzen völlig unberechtigt erfolgreichere Autoren beleidigt, doch mehr will ich erstmal nicht verraten. Etwas Eigeninitiative sollte euch aber nicht schaden, denn so macht eine Entdeckungsreise viel mehr Laune, zumal es damals auch oftmals gar nicht anders ging, als dranzubleiben und sich selbst was zusammenzureimen.
1987 zum Beispiel: Da touchierte Punk meinen Kosmos lange, bevor ich überhaupt das erste Stück Punkmusik hören sollte. Plötzlich kursierten Platten mit komischen Bildern auf dem Pausenhof, aber wenn man nicht zum erlauchten Kreis der coolen Leute gehörte, die sich untereinander diese Scheiben zum Überspielen ausliehen, konnte man immer nur kurze verstohlene Blicke drauf werfen, ohne genaueres in Erfahrung zu bringen. Ich hätte ja auch gerne mitgemacht beim Plattenverleihen, denn freigiebig war ich durchaus, aber ich ahnte, dass „Traumziel“ von der „Münchener Freiheit“ wohl eher genauso wenig gefragt sein würde wie „Brahms für Kinder“.
Zum Glück hatte ich aber in Mathe als Sitznachbarn Torben, und der hatte erstens: auch keinen Bock auf Mathe, zweitens: immer großes Mitteilungsbedürfnis, und drittens: einen älteren Bruder, der, laut Torben, waschechter Punk war. Eine sehr gute Mischung. Nicht für Algebra, aber durchaus, um endlich ein paar erste Infos über die Hintergründe dieser mysteriösen Plattencover zu bekommen. Torben erklärte mir sehr viel, immerhin hatten wir wöchentlich zwei Doppelstunden, ich schrieb astreine Fünfen und bombenstarke Bandlogos, während mein Wissen wuchs. Leider brachte ich alles durcheinander. Irgendwie wurden in meinem Hirn Punks zu Kommunisten, die zum Zeichen ihrer Individualität barfuß skateten, Kronkorken sammelten und die Haare zu einem gleichschenkeligen Dreieck aufstellten. Vielleicht hatte sich dazwischen irgendwann doch auch etwas Geometrie reingemixt, was wenigstens die Noten meiner Algebraklausuren wieder etwas relativieren würde.
Ich konnte also inzwischen aus dem Gedächnis fehlerfrei das Logo von „Slime“ nachmalen, dann sogar das der „Emils“, ich kritzelte überall „Tolstois“ hin, weil ich den Namen „Toy Dolls“ mißverstanden hatte aber hundertprozentiger Fan der Band war, und ich hatte insgesamt noch nicht ein einziges Lied von irgendeiner der genannten Bands gehört. Um so erstaunlicher im Nachhinein, dass ich überhaupt einer vermeintlich barfuß skatendenden Horde Kommunistengeometriker nachhechelte, zumal nirgendwo echte Exemplare in natura anzutreffen waren. Die Gestalten, die am Bonner Hauptbahnhof abhingen und Bier süffelten, konnten das jedenfalls nicht sein, denn deren Haare waren wirr und die trugen dicke Schuhe und Anarchiezeichen, da passte nix zueinander.
Auch in meinem Heimatdorf stellte diese Neuausrichtung meiner Begeisterung keineswegs eine Aufwertung meines sozialen Status dar, was ich aber in diesem Fall mal ausnahmsweise nicht den verrosteten Strukturen des Dorflebens ankreiden kann. Vielmehr gaben sich meine alten Dorffreunde zu Anfang durchaus Mühe, meinen begeisterten Erzählungen zu folgen, aber weil ich halt immer irgendwie aus dem Fakten-Wust in meinem Kopf neue abenteuerliche Punkdefinitionscocktails kreierte, die, ehrlich gesagt, oftmals nicht mal für mich Sinn ergaben, ließ die Bereitschaft schnell nach und sie gruppierten sich lieber um irgendein Mofa. Wie und warum das frisiert wurde, schien ihnen dann doch interessanter.
Also blieb ich ein ziemlicher Einzelgänger auf meinem Weg in die subkulturelle Identität, so lange, bis ich dann tatsächlich endlich mal echte Schallplatten mit Punkmusik in die Finger bekam. Vorher hatte ich nur notgedrungen auf meinen „Bravo“- und „Popcorn“- Samplern nach Musik gegraben, die wenigstens in meiner Vorstellung ein bißchen in irgendeiner Form so halbwegs auf eine Linie mit den Punkbandlogo-Bands passten, aber das lief dann auf „Frankie goes to Hollywood“ und „Kajagoogoo“ hinaus, und die kriegte ich irgendwie emotional nicht auf die Reihe. Als dann aber offiziell als Punk anerkannte Musik in mein Leben rumpelte, ich nach anfänglichem Schock erleichtert feststellte, dass sie mir sogar halbwegs gefiel, bildete ich mich fleißig weiter und wurde immer kompetenter. Ich blieb aber trotzdem verständnisvoll für die Unwissenheit anderer und sah darum zum Beispiel nachsichtig davon ab, die Sex Pistols wegen ihres peinlichen Anarchie-Fauxpas öffentlich als Pseudopunkdeppen zu brandmarken. War sicher nur ein Versehen gewesen, Anarchie und Kommunismus zu verwechseln, sowas konnte vorkommen, erklärte ich weise dem staunenden Kreis meiner Jünger, nämlich Flash Gordon, Han Solo und Aron Strobel, dem Gitarristen der „Münchener Freiheit“. Die waren zwar alle imaginär, aber durch die Bank weg begeistert, und das war immerhin ein Anfang.
Der weitere Weg führte natürlich bald raus aus der Eremitage und direkt in die Individualität der szenebedingten Massenuniformierung, aber wenn ich ehrlich bin, ich kann das so schlimm nicht finden. Wer will denn immer nur ausschließlich allein mit sich selbst sein? So ganz ohne Bezüge, ohne Vergleichsmöglichkeiten, ohne Erkennungsmerkmale dafür, dass andere ähnliche Sehnsüchte, Vorlieben, Ängste und Ideen haben? Mir gefällt, wenn ich auch heute noch junge Menschen sehe, die Jacken und Haare in einem Stil tragen, der direkt aus meiner Jugendzeit rübergebeamt worden sein könnte. Oder noch vorher. Ich mag auch, dass viele Logos noch immer aktuell sind, denn das zeigt, das etwas Gutes weiterlebt. Schade natürlich, wenn es stagniert. Aber das stimmt ja so auch nicht, glaube ich. Alles entwickelt sich weiter. Beweis gefällig? Bitteschön: Heutzutage fährt kaum noch ein Punk barfuß mit dem Skateboard seine Kronkorkensammlung zum kommunistischen Geometriecoiffeur spazieren. Beweisführung abgeschlossen. Mic Drop. Merci.
Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.
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