September 2022: Kassetten und Currywurst

Liege nachts auf der Couch und gucke Netflix. Meine Schlaflosigkeit ist in der Pubertät angekommen und verlangt ständig nach Entertainment, ansonsten motzt sie stimmbruchkrächzend nervenzerfetzend und richtet über mich, die Welt und bonusmäßig nochmal mich in meinem Schädel umher. Wenn aber was anderes lärmt, hält sie die Klappe. Heute Nacht also Netflix. Ein Film namens „Mixtape“, es geht, glaube ich, um Mixtapes. Ich habe nicht besonders aufmerksam zugeschaut, weil ich gleichzeitig auf meinem Handy rumdaddele. Bin ich da eigentlich der einzige, der sich im Umgang mit den medialen Möglichkeiten benimmt wie Homer im Schokoladenland, oder seid ihr genauso maßlos multidigitaltoxisch drauf?

Die Frage war natürlich rhetorisch und bloß vorgetäuscht verallgemeinerungsfrei, denn ich bin ja nicht blöd. Die Leute glotzen inzwischen sogar beim Radfahren auf ihre Handys. Zum Glück krieg ich davon kaum was mit, dank #catsoninstagram.

Früher habe ich beim Radeln immer Walkman gehört. Ich rede von der Zeit, bevor diese unseligen CD-Discmen die Kassettenvariante ablösten, die dann jeden Musikgenuss to go komplett killten, weil die empfindlichen CDs bei jedem Atemversuch stockten, sprangen oder explodierten. Besonders bei den späteren Varianten mit ihren ausgefeilten Antiwackelsystemen. Gibt es eigentlich eine Punkrockband namens „Antishocksystem“? Wenn nicht, auch egal.

Jedenfalls meine ich die Zeit noch davor, also ganz früher, als die Droschken allabendlich ihre Pferde aufwiehern ließen und deren Hufe aufgepeitscht den Staub der Straßen aufwirbelten, bevor Mama Ingall dekorativ ihr Taschentuch fallen ließ, um das Race zu starten. Meist schaffte es eine der Droschken nicht, rechtzeitig vor den Klippen zu bremsen, und rauschte direkt in Gevatter Rhein, worauf dann eine brutale Familienfehde entstand, deren Ende unweigerlich die Auslöschung einer der Familien war, oder alternativ die komplette Kostenübernahme von einer Familie für die Droschkenreparatur durch die Profifrickler der Tankstelle Dederichs.

So lief das jedenfalls in meiner Erinnerung. Kann aber auch anders gewesen sein, ich war halt ziemlich abgelenkt von der Musik aus meinem Walkman. Sofern ich nicht irre, war ich damals hauptsächlich damit beschäftigt, mit Walkman und Rad durch die Gegend zu fahren, um die Zeit rumzukriegen, die ich für’s Vereinstischtennisschwänzen benötigte. Das ist übrigens gar nicht so einfach, wie’s klingt, wenn man nur eine Kassette und halbleere Batterien dabei hat, denn, um mal zur Legende der klassischen Mixtapes zu kommen: das ist alles totaler Quatsch.

Natürlich gab es hier und da Menschen, die in filigraner Kleinstarbeit aus dem breiten Fundus ihrer Schallplatten, Radiomitschnitten oder Drehorgelwalzen aus thematisch perfekt konzipierten Perlen unterschiedlichster Musikgattungen perfekte Gesamtkunstwerke auf Tape zusammenstellten, dazu aus Zeitungen und Ölgemälden liebevolle Kassettenschubereinleger bastelten und mit Schokominzeherzchen garniert ihren Liebsten in die Schultaschen schmuggelten, aber diese Menschen hatten alle den Makel, über einen Scheißmusikgeschmack zu verfügen. Musik spricht nämlich für sich selbst und braucht kein Lektorat. So, F**k you, Nick Hornby. Halt, stop, das nehm‘ ich zurück: L*ve you, Nick Hornby. Entschuldigung. Ich weiß nicht, was mich gerade geritten hat. Irgendeine ominöse Wut auf was. Bestimmt wieder meine adoleszente Insomnia. Alle Mixtapes, die ich bisher geschenkt bekommen habe, sind wunderschöne Kompilationen absolut geschmackssicherer Menschen, alleine, ich vermisste bislang jedesmal das Schokominzeherzchen. Vielleicht daher das gerade eben. Man muss sich auch mal irren können. Und entschuldigen ebenfalls. Außerdem trage ich nur eine Teilschuld an mir, denn ich bekam erst so dufte Mixtapes, als die Zeit meiner juvenilen Unsicherheit meiner mittelalterlichen Selbstüberschätzung gewichen war, also ein paar Jahre zu spät für die Hochzeit der Kassetten. Jene Hochzeit verlebte ich fast ausschließlich mit den lieblosen Tapes, die damals die Regel darstellten: Hüllenlose Kassetten, auf die irgendein Kumpel einfach ein durchlaufendes Album draufgespielt hatte, völlig egal, ob das komplett draufpasste, Leerstellen blieben oder Lieder mittendrin abgeschnitten wurden, von Soundeinstellungen und Lautstärkepegeln mal völlig zu schweigen.

Das waren aber immer noch die besseren Kassetten, denn oft reichte es nur für die überspielte Version von einer überspielten Version von einer überspielten Version von einer Albumkopie, wodurch im Endergebnis klangtechnisch recht egal wurde, ob da ursprünglich Dirty Rotten Imbeciles oder Dire Straits aufgenommen wurden.  Ich konnte beispielsweise eine lange Zeit die Songs eines ganzen Adicts-Album komplett auswendig mitsingen, bis ich irgendwann an die Original-LP gelangte und feststellte, dass sie englische Texte hatten. Ich war aber sowieso überrascht, dass sie „Adicts“ hießen, denn die Mühe, Band- oder Albennamen, oder gar die Songtitel in die Kassetteneinleger zu schreiben, machte sich kaum wer, und wenn, gingen die spätestens beim ersten Pausenhofgang verloren. Ich hatte statt „Adicts“ „Eddings“ verstanden, was mir eigentlich auch im Nachhinein noch besser gefällt. Werde ich mal Rapper, heiße ich „Edding MC“. Mein Life wird ein Tag, meine Gang heißt „Marker Ink.“, meine Alben gibts nur auf Schelllack. Später.

Früher, wie gesagt, radelte ich vorbei an rasenden Kutschen und pöbelnden Mofadörflern. Den Soundtrack lieferten Run DMCs Album „King of Rock“ auf der einen, und Dead Kennedys‘ „Bedtime for Democracy“ auf der anderen Seite, während ich ungeduldig darauf wartete, dass endlich mein Kumpel Frank vom gemeinsamen Tischtennistraining kam, um mit mir zum Imbißstand zu düsen und dort bei Currywurst mit Fritten und Mayo letzte Details unserer Bandkarriere zu klären. Wir spürten dabei beide, dass die Band im Grunde die letzte noch verbliebene Verbindung zwischen uns beiden darstellte, und auch diese sich langsam aufzulösen begann, versuchten aber, diese Unsicherheiten unter markigen Bekräftigungen und Ketchup zu vergraben.

Die Sonne ging unter, und ich fühlte mich wie Richie Guitar, bzw. wie völlig unvorbereitet am Sonntagabend vor einer montäglichen Matheklausur, was für mich emotional quasi deckungsgleich war. Unsere Band sollte später groß werden, ziemlich groß, ich verrate jetzt nicht, wie sie genau hieß, aber würde ich den Namen nennen, würden so ziemlich alle überrascht die Augenbrauen hochziehen und anerkennend mit den Zungen schnalzen, jedenfalls alle von der Flurgasse bis zur Mühlenstraße.

Doch damals ahnten wir davon noch nichts und die Pommesschalen waren schnell geleert. Wir wischten uns die Mayoreste aus dem Gesicht, verabschiedeten uns bis morgen und fuhren auf getrennten Wegen nachhause. Die bittersüße Tristesse kam direkt zurück, und Run DMC erzählten dazu passenderweise meinen Ohren, „it’s“ nun mal „like that“, ob mir das nun passte oder nicht. Ich nehme an, sie meinten damit sinngemäß auch nichts anderes, als dass es „kütt‘ wie et kütt’“, doch die kargen urban-melancholischen Keyboardklänge wattierten meine Selbstzweifel viel hilfreichender als rheinische Holzschnitzmotti an Vereinshaustürbalken. Der Song füllte mich vollkommen aus und ich beschloss, ihn sofort nach Ankunft daheim, für Frank auf Kassette zu überspielen, vielleicht brächte das tiefe Grundfeeling dieses Song uns wieder näher zusammen.  Aber wahrscheinlich habe ich dann aus Faulheit doch nur das ganze Album kopiert. Oder ich hatte keine Leerkassette mehr übrig, oder einfach keine Lust auf den ganzen Aufnahmestress. Vielleicht war ich aber schon wieder in einer ganz anderen Stimmung, weil ich nämlich für gewöhnlich nach „It’s like that“ immer keinen Bock mehr auf Run DMC hatte, sondern lieber die Kassette rumdrehte, um Dead Kennedys zu hören, was meine Laune mehr so in Richtung „F**k you, all (auch Frank)!“ katapultierte. Außerdem musste ich abends sowieso sicher noch Mathe lernen oder Geschi, und sich davon prokrastinativ abzulenken, kostete ja auch eine Menge Zeit, die es nicht sinnvoll zu füllen, sondern möglichst kraftschonend mit fernsehen oder Spexschmökern zu überbrücken galt, bis ich in selige Nachtruhelosigkeit verfallen durfte. Wie gut, dass es damals noch keine Handys gab, womöglich hätte ich dann sogar meine Zeit verschwendet. Heute habe ich ein Handy, wenigstens gibt es die Spex nicht mehr, denn die war wirklich unleserlicher als Gedichte von Julia Engelmann. Aber mit Mathe könnte ich mal wieder was machen. Zum Beispiel meinen Frieden machen und abschließen. So, wie mit dieser Kolumne. Das wäre mal ein gelungenes Ende. Nur leider ist es hier wie mit den Kassetten von damals: Nur die wenigsten sind gelungene Mixtapes. Die meisten haben weder Konzept, noch Schokominzherzchen, sondern klingen etwas dumpf, wiederholen sich und brechen oft mittendrin


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 27. September 2022 veröffentlicht.

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