Mitleidig schaut meine Holde mich an und formt mit den Lippen lautlos die Frage, in welchem Kreis der Hölle ich mich gerade verorte. Wir sitzen uns gegenüber, um einen Tisch, zusammen mit acht weiteren Menschen, die mit uns einen Kurzurlaub in der Lüneburger Heide verbringen.
Die Lüneburger Heide ist eine Gegend, die mir bislang ausschließlich aus Kindertagen als pflichtgebundener Horrorort ein Begriff war. Ich hasste sie, denn mein bester Freund Michi musste dort mit seiner Familie gefühlt jedes Wochenende Verwandte besuchen, weshalb er nie die nötige Zeit zum Zuhauseausreißen zwecks Rheinschiffanheuern fand. Im Grunde ist die Lüneburger Heide schuld daran, dass wir keine Rheinpiraten geworden sind, sondern nur was mit Steuerklasse statt Steuerbord. In meiner kindlichen Vorstellung sah die Lüneburger Heide übrigens exakt so aus, wie sie auch in echt aussieht, höchstens vielleicht mit weniger neongeklufteten Rentnern drin, die überall im Heidekraut stillstehen wie hypnotisiertes Wild, oder beispielsweise kackende Rentner in Neonkluften. Aber ansonsten muss ich zugeben, das Panorama zwischen restrostroter Heidepracht und Baumstumpfsumpfidylle gefällt mir außerordentlich, und ich fühle mich beim Flanieren ein bißchen wie Holmes auf dem Weg zu den Baskervilles.
Jedenfalls, unsere Urlaubsgruppe sitzt nun zusammen in der Küche und alle halten aktuell irgendwelche Spielkarten in den Händen. Sogar ich, obwohl ich wirklich alles getan habe, um das zu umgehen. Zunächst versuchte ich es damit, mich über Gebühr zu verspäten, indem ich mich ordentlich in der Heide verlief. Nach meiner Rückkehr versteckte ich mich sogleich im Kabuff hinterm Bügelbrett, und, nachdem ich dort entdeckt wurde, betrank ich mich rasch nach allen Regeln der Kunst möglichst unselig, aber nichts konnte mich retten:
Sie insistierten, es würde mir sicher gefallen, ich müsse mich nur drauf einlassen, quetschten mich in ihre Mitte und drückten mir bunte Karten in die Pfoten. Seitdem sind zwei Stunden vergangen. Im Spiel geht’s um Piraten, und es läuft immer weiter und weiter. Zu Beginn jeder Runde muss man mit Schwung eine Karte auf den Tisch knallen, worauf alle piratenmäßig „Johoho!“ brüllen und dann geschieht eben irgendwas in Folge, was sich meiner Kenntnis entzieht.
Ich weiß weder was, wie, noch warum, obwohl mir alle das schon mehrmals zu erklären versucht haben. Doch wenn Menschen mir Spielregeln erklären wollen, schalte ich sofort ab und in meinem Kopf hüpft nur noch das Homer Simpson-Äffchen und schlägt rhythmisch mit den Tschinellen. Ich ziehe mich in mich zurück und bete still, dass das alles schnell vorüber geht.
Heute habe ich damit wenig Glück, denn zwar knalle ich andauernd die falschen Karten auf den Tisch und verliere auch haushoch, aber es nützt mir nichts: Ich scheide einfach nicht aus.
Stattdessen beginnen sie nur jedesmal, mir die Regeln nochmal von vorne zu erklären, zunehmend ungeduldiger und mit mehr oberlehrerhaftem Geseufze, aber ich kann und will da einfach nicht zuhören, denn das Äffchen scheppert inzwischen „We Will Rock You“, und Queen hasse ich fast so sehr wie Gesellschaftsspiele.
Woher meine Queenanimosität kommt, kann ich übrigens nicht erklären, schließlich weiß ich ja, sie sind ganz, ganz dufte, und Freddy war der Größte und die Musik megamultisuperorchestral. Außerdem müssten sie mir eigentlich allein deshalb sympathisch sein, weil sie immerhin zwei Alben nach Marx Brothers-Filmen benannt haben, aber ich kann mir nicht helfen, für mich ist Queenmusik wie Kreidegequietsche auf Deutsch-Leisungskurstafeln.
Asche über mein Haupt und pardonnez moi, aber Scaramouche, Fandango, Galileo, figaro my ass: Wenn ich die Wahl zwischen „Under Pressure“ und „Ice Ice Baby“ habe, dann schneid‘ ich mir ratzfatz einen Undercut und tanze freudigst noch kniebeugiger als die Fanta Vier im „Die da“-Video.
Was Gesellschaftsspiele angeht, verorte ich die Gründe irgendwo in der Kindheit. Damals habe ich eigentlich gerne gespielt, oft in Familienferien zusammen mit meinen Großeltern. Manchmal „Mensch ärgere dich nicht“, manchmal „Spiel des Wissens“ oder „Schlangen und Leitern“, aber meistens doch Kartenspiele wie MauMau oder Saujagen. In meiner Erinnerung saßen wir regelmäßig abends, nach langenWandertouren, zusammen neben dem Kachelofen in der Wohnstube unserer Ferienwohnung, die Erwachsenen kalt perlende Weizenbiergläser neben sich, mein jüngerer Bruder und ich Limo, immerhin in stark verzierten Bierhumpen mit Metallklappdeckeln, frischer Zigarettenqualm von Opas L&Ms nebelte atmosphärisch zwischen Tisch und der tiefhängenden Deckenlampe und kein Radiogedudel oder Fernsehgequassel störte die spielgespannte Stimmung im Raum.
Für genügend Gequatsche sorgten wir schon selbst, und das musikalischste, was je passierte, war Opas an George Kranz‘ Trommeltanz angelehnter „Din da da!“ Ruf, den er immer ausstieß, wenn er irgendein gutes Blatt auf den Tisch kloppte. Näher kamen er und die Popkultur sicher nie wieder zusammen.
Das waren supergute Abende voller Spaß, und der Grund lag vor allem darin, dass keiner von uns hauptsächlich um einen Sieg kämpfte. Statt Anspannung im Raum, knisterte das Holz im Kachelofen, denn zwar spielten wir durchaus ambitioniert, genossen aber genauso die vielen thematischen Nebengleise in den Unterhaltungen, die den Spielfluss hier und da unterbrachen, und zwar als Teil des Movements, nicht als Störung.
Als ich dann in Jugendfreizeiten oder auf Klassenfahrten mit anderen Leuten zu spielen begann, empfand ich die Stimmung oftmals ganz anders. Plötzlich herrschte ehrgeiziger Kampfgeist, es ging ums Gewinnen gegeneinander, nicht mehr um den gemeinsamen Moment. Verbissen wurde um Regeln gestritten, sie wurden gedehnt und verformt, betont und beschrien, Würfel flogen wie Geschosse aus den Bechern und Figuren traten wild um sich auf den Spielfeldern.
Karten wurden zu Fallbeilen und Menschen zu FDPlern.
Besonders unangenehm stießen mir all die schlechten Gewinner auf, deren einzige Freude am eigenen Sieg in der anschließenden höhnischen Häme den Verlierern gegenüber zu bestehen schien. Fraglos, schlechte Verlierer sind auch kaum besser, ihr missgünstiges Gejammer ist deckungsgleich mit dem der aktuellen Montagsdemos. Doch auch unter den schlechten Verlierern sind die schlechten Sieger natürlich die schlechtesten. Sie sind Monty Burns in einer Welt voller Smithers. Für mich jedoch war bei den ganzen Tischschlachtfeldern am schlimmsten, dass jede unschuldige Ablenkung als Affront galt, die sofort im Keim erstickt werden musste, denn wo Freude blüht, verdorrt jede Feindschaft. Und die ist schließlich dringend nötig, im großen Krieg um die meisten Monopolyhäuschen, das fetteste Blatt oder den höchsten Pasch. Ich fand an diesen Spielenachmittagen die gleiche unentspannte Scheißstimmung freudlos-verkrampfter Gewinngier vor, die mich schon von allen Fußballaktivitäten zutiefst abgestoßen hatte, und das verkleinerte meinen sozialen Lebensraum um ein weiteres Element der gruppenbildenden Interaktionsmöglichkeit. Einfach keinen Bock drauf.
Stattdessen begann ich mit Musik und Alkohol, aber natürlich auch, weil die Rheinpiratensache wegen Michis Lüneburger Heidekram einfach nicht ins Laufen kommen wollte.
Und da bin ich also heute, trotz Musik und Alkohol, in der Lüneburger Heide, lasse Karten auf den Tisch purzeln und rufe mit allen unisono piratenmäßig „Johoho“. Ich verliere selbstverständlich wieder. Doch anstatt diesen Umstand hämisch zu kommentieren, fragt der Gewinner dieser Partie in die Runde freundlich, ob wir nicht auch Lust auf etwas Musik hätten. Alle bejahen. In mir keimt Hoffnung. Vielleicht sehe ich diese Gesellschaftsspielsache einfach zu streng. Die Lünebürger Heide hat sich letztlich ja auch bei mir rehabilitiert.
Dann kommt die Musik: Eine akkordeonlastige Sponge Bob-Version von „What shall we do with the drunken Sailor?“ Ich muss tatsächlich amüsiert schmunzeln und finde in den Groove, doch nun jault der Rest der Gruppe gequält auf, darum wird zum nächsten Song geskippt: „I want to break freeeee!“ baritönt’s sofort los und alle knödeln augenblicklich tiefstgerührt mit. Und auch ich stimme ihm inhaltlich gerade vollkommen zu, während ich zu meiner Holden schaue und stumm die Antwort auf ihre Frage formuliere: Im Heidekreis, Holde, im Heidekreis.
Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.
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