Hoppla, es ist herbstlich frisch geworden. Just sitze ich auf meiner Matratze in meiner Dachkammer, bin fest in Decken eingemümmelt, tippe diese Zeilen und biete somit eine verzerrte Reality-Karikatur von Spitzwegs armen Poeten. Meine werte Mietgesellschaft hat nämlich den akuten Temperatursturz zum Anlass genommen, jetzt endlich die alten Nachtspeicherheizungen gegen zeitgemäßere Modelle auszutauschen. Das kommt natürlich gerade in Zeiten einer Pandemie supercool, denn erstens gehört zu dieser Modernisierung eine ordentliche Mieterhöhung, zweitens tummeln sich nun wochenlang mehr unbemaskt-schniefige Handwerker in der kalten Bude als neuerdings Podcaster auf meiner Youtube-Videovorschlagsliste.
„Podcaster auf Youtube? Podcaster auf Youtube?“ fragen nun die aufmerksamen Leser, „ist der Vergleich nicht etwas sehr bemüht? Und müsste es nicht ‚Podcaster*innen‘ heißen? Und ‚Handwerker*innen‘? Und ‚Leser*innen‘?“
Zu zweitens, drittens und viertens: Ja, müsste es. Ich bitte um Verzeihung. Zu erstens: Es geht. Denn tatsächlich habe ich den Eindruck, dass sich in letzter Zeit die Zahl der Podcasts rasant vervielfacht hat. Ich will das aber auch gar nicht kritisieren, denn ich muss das Zeug schließlich nicht hören. Insofern sind die Podcasts besser als die Handwerker*innen in meiner Butze, denn letztere kann ich weder stumm schalten, noch bis zu dem Moment vorskippen, wo die neuen Heizungen fertig eingebaut und sie selbst endlich wieder abgezogen sind.
Warum mir die ganzen Podcasts von Youtube vorgeschlagen werden, kann ich mir übrigens nicht so recht erklären, denn bis auf die „Wundersame Rapwoche“ finde ich eigentlich alle Podcasts fast furchtbar. Am meisten selbstverständlich die, die ich gar nicht kenne.
Youtubes Assoziation, wenn ich Mauli und Staiger gerne zuhöre, müsste mir doch auch Torsten Sträters Comicfilmtalk gefallen, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, denn ich sehe da nicht viele Gemeinsamkeiten. Andererseits bin ich natürlich vielseitig interessiert, insofern vergessen wir meine Aussage ein paar Zeilen weiter oben und sagen deeskalierend: „Chapeau für den Versuch, Youtube!“
Eigentlich bin ich generell auch wirklich Fan von der Podcast-Idee. Menschen reden miteinander über Themen, die sie bewegen, ohne Drehbuch, aber mit Leidenschaft. Schön ist besonders, wenn das Zeitkorsett nicht zu eng ist, so wie es in anderen Talkformaten leider meist der Fall ist, weil so mehr möglich wird. Ausschweifung als Strategie.
Als Pioniere werden ja gerne Schulz und Böhmermann genannt, aber das ist Quatsch, denn zum Beispiel schon 1990 erschien mit „Pump up the Volume“ ein Film über einen Piratensender, dessen Moderator, gespielt von Christian Slater, frei von der Leber weg stundenlang hämisch pointierte Monologe über die Widrigkeiten seines Lebens und der Gesellschaft allgemein durch den Äther soufflierte. Ich glaube, ich habe den Film auch schon mal in einer früheren Kolumne erwähnt, bin aber gerade zu faul, danach zu suchen. Wenn Ihr wollt, sucht selber, ich meine, mich zu erinnern, dass es um den Song „Weinerschnitzel“ der Descendents ging, den Slater im Film zweimal hintereinander spielte, was mich derart beeindruckte, dass ich Jahre später eine überteuerte Platte der Descendents nur wegen dieses Songs – seine komplette Spielzeit beträgt 15 Sekunden – kaufte. Warum ich das jetzt schon wieder erzähle, wenn ich doch glaube, es schon mal berichtet zu haben? Na ja, Ausschweifung als Strategie. Noch besser: Redundanz als Eselsbrücke. Hashtag.
Außerdem schreib ich den Titel „Weinerschnitzel“ so gerne, er fühlt sich wie ein erlaubter Tippfehler an. Ein ziemlich guter, bis dato unveröffentlichter Beastie Boys-Song wurde übrigens ebenfalls in „Pump up the Volume“ komplett gespielt, aber das nur am Rande. Jedenfalls wirkte das Ganze schon sehr wie eine Blaupause für die Podcasts today, aber erfunden wurde diese Entertainmentform wiederum von jemand ganz anderem, nämlich von mir.
Na gut, ich war nicht allein, genau genommen zeichneten wir zu dritt dafür verantwortlich: Bruno, Dirk und ich. Ich weiß aber nicht, ob ich ihre echten Namen verwenden darf, drum nenne ich sie Bruno und Dirk, denn Ihr könnt ja jetzt nicht wissen, ob diese Namen echt sind. Mein Name war noch Torsten, der stimmt, aber er ist alt und verbraucht und heute nutzt ihn ein grauer dicker Mann mit Stoffmütze sehr erfolgreich, aber ich gönn’s ihm, denn er hat sonst nur seinen Erfolg.
Damals hieß ich jedenfalls Torsten und Bruno und Dirk vielleicht ganz anders. Aber unser Piratensender hieß „Radio Dollendorf“, was Insider*innen äußerst griffig mit „RDD“ abkürzten.
Es war 1986 und ich stieß zugegebenermaßen erst etwas später dazu, nachdem mein Kumpel Kai, sein Name ist vielleicht geändert, gefeuert worden war, weil er, statt termingerecht auf Sendung zu gehen, lieber Hausaufgaben gemacht hatte. Im Nachhinein vielleicht die richtige Entscheidung, denn er ist heute sehr erfolgreich, vielleicht sogar unter dem Namen „Torsten“ aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Damals war er aber traurig, doch da konnte ich ihm nicht helfen, denn ich hatte Bock auf Radio und keinen Bock auf Hausaufgaben, weshalb ich der perfekte neue Mann für Radio Dollendorf war. Wir sendeten einmal in der Woche, jeder eine Stunde.
Brunos und Dirks Sendungen hießen „Radio Hits“ und „Radio Charts“ und sie spielten ihre Lieblingshits, die sie knackig mit kurzen Anekdoten anmoderierten. Ich war ganz anders drauf, meine Sendung hieß „Radio Eintopf“ und ich ergänzte meine favorisierten Hits mit kleinen anekdotischen Anmoderationen. Besonderheit unseres Senders war indes die 24 Stunden-Live-Show, die etwa zweimal pro Jahr stattfand und die immer etwa 12 Stunden dauerte, weil uns dann irgendwie die Puste ausging. Anlässlich dieser Shows trafen wir uns alle Samstag morgens um sechs Uhr und sendeten dann stundenlang im Kollektiv drauflos. Wir besprachen wichtige gesellschaftliche Themen, zum Beispiel die anstehende Kirmes der St. Sebastianus Junggesellenbruderschaft (e.V.), die vergangenen Fußballspiele vom TUS Oberdollendorf, die menschliche Niedertracht von allen Niederdollendorfern und noch vieles mehr.
Auch referierten wir über Themen, an denen wir nur vereinzelt Interesse hatten, Dirk erzählte über Vor- und Nachteile von AGFA-Leerkassetten, ich über die Unterschiede von diversen Flitzebogen und Bruno über die Geschichte Beastie Boys, die aber damals noch recht kurz war.
Dazwischen spielten wir natürlich weiter Hits, wobei man sagen muss, dass unsere Kontingente ziemlich begrenzt waren, weil Singles damals noch sehr teuer waren und unsere Hit-Mitschnitte von anderen Radiosendern für unsere Shows kaum genutzt werden konnten, weil die Moderatoren da ständig in die Hits reinquatschten. Also liefen im Grunde fast immer die gleichen paar Platten, die wir hatten: „Crocketts Theme“ von Jan Hammer, „Miami Vice-Theme“ von Jan Hammer, „The Living Daylights“ von A-HA und diverse Songs von Jürgen von der Lippe, weil Bruno von ihm eine LP besaß. Zu jeder vollen Stunde lasen wir Nachrichten vor, am liebsten Sport und irgendwas mit Helmut Kohl aus der BILD, die wir extra gekauft hatten, dann gabs Wetter und es ging in die nächste Runde Talk. Enorm podcastig. Gegen 18 Uhr lief dann irgendwann nur noch Jürgen von der Lippe, weil alle Themen aufgebraucht waren und wir auch irgendwie keine Lust mehr hatten, danach gabs Cola und Fernsehen und die 24 Stunden-Show war zuende.
Unsere Hörerschaft nahm diese verfrühten Interrupti übrigens recht gelassen auf, denn sie bestand zu besten Einschaltquotenzeiten aus Brunos Eltern, weil wir ausschließlich in deren Küche sendeten, wo die kleine Box stand, die mit einem Kabel ans Mischpult in Brunos Kinderzimmer angeschlossen war.
Diesem beschränkten Senderadius zum Trotz gab es tatsächlich auch mal eine Liveaufführung von Radio Dollendorf. Dirk war für den Ton und die Liveeinspieler zuständig, Bruno und ich moderierten die Show und wir waren sehr gut. Wir machten Ratespiele mit dem Publikum, schmissen mit Gags um uns und hatten sogar Livebands am Start, die Playback spielten: Mein Bruder Christian und sein Kumpel Thomaswaren A-HA und spielten „The Living Daylights“ und Jens, der jüngere Bruder unseres Kumpels Michi, trat als Jürgen von der Lippe gleich mit mehreren Tracks auf, weil wir von dem, wie gesagt, eine ganze LP da hatten. Wir fühlten uns alle wie Thomas Gottschalk, so professionell, wie wir da das ausverkaufte Wohnzimmer locker flockig bespaßten und die 30 Minuten vergingen wie im Flug. Zum Abschluss gab es noch eine Preisverleihung für unsere Ratespielteilnehmer, mein Vater erhielt als Sieger zwei selbstgemalte Radio Dollendorf-Plakate, Brunos Vater als zweiter Sieger ein Plakat von Radio Dollendorf (selbstgemalt), einen dritten Platz gab es nicht, darum konnte rasch der Tisch wieder ins Wohnzimmer zurückgetragen werden und es gab Kaffee und Kuchen für das gesamte Publikum, das diese Kuchen allerdings auch komplett am Vortag gebacken hatte.
Obwohl das alles so ein riesiger Erfolg gewesen war, markierte jene Live-Show auch das Ende von Radio Dollendorf. Die Gründe lagen mit Sicherheit am rasanten Aufstieg und waren so klassisch wie zahlreich: Mofas, Zigaretten, Cola-Bier und Mädchen. Die Folge: rasant sinkende Notendurchschnitte. Somit war RDD Geschichte. Aber eine gute Geschichte, das ja. Und wahrscheinlich die Blaupause für all das, was jetzt da podcastmäßig über Youtube flackert. So ist es ja immer: Die Originale versinken im Sumpf des Vergessens, zu früh ihr Wagnis, bleibt nur der nicht zu ortende Nachklang eines Echos, den die Epigonen auffangen und konservieren, um daraus den Sound of Success zu destillieren. Es sei ihnen gegönnt. Wenn Erfolg nämlich bedeutet, dass man sich auf Preisverleihungen begeben und dort von Puffpaffs anmoderieren lassen muss, während Lobrechts daneben respektvolle HipHop-Handzeichen gestikulieren, dann bleib‘ ich doch lieber fest in Decken eingemümmelt bei meinen Handwerker*innen und Existenzängsten. Weinerschnitzel.
Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.
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