März 2022: Scream, das Original

„Wir heißen ‚Scream‘.“ befahl ich, nachdem ich sorgsam die Tür verschlossen hatte, um unerwünschte Mithörer auszuschließen. Michi guckte auf. Er saß auf dem Teppich vor den Überresten seines selbstgebauten Nunchakus.

„Wer denn?“

Ich verdrehte die Augen genervt.

„Na, wir. Die Band, halt.“ sagte ich.

„Gut. Guck mal, hier ist die Schraube von der Kette rausgebrochen.“ Er stand auf und hielt mir einen der beiden Kehrschaufelgriffe hin, die als Schlaghölzer der Waffe herhielten. Der Riss durchs alte Holz klaffte weit auseinander. „Und ich hab das Ding heut morgen nur ganz leicht gegen die Couch bei Oma gehauen.“ schimpfte er, „Wie soll ich denn damit wirklich mal fighten, wenn’s ernst wird? Ist doch lächerlich!“ Er seufzte, schmiss den Stock auf den übrigen Nunchakuhaufen und sich auf’s Bett.

Nunchakus waren seit ein paar Tagen das neueste große Ding in Oberdollendorf. Irgendwer aus unseren Reihen war an einen asiatischen Martial Arts-Film geraten, vielleicht über heiße Connections zu älteren Geschwistern oder so, jedenfalls hatten diese Kampfhölzer ratzfatz alle selbstgebastelten Blasrohre von den Straßen gefegt. Statt dessen lugten nun, im Herbst 85, aus allen Hosenbünden der Jungs hier zwei Holzklöppel, die durch eine kurze Kette verbunden waren, was zumindest für einen gefährlich wirkenden, etwas breitbeinigen Watschelgang sorgte. Das war aber auch das einzig bedrohliche, denn der Sinn dieses Schlagwerks war zumindest diskutabel: allen Beobachtungen zufolge waren die frisch geborenen Dollendorfer Ninjas schon mit einem Holzknüppel allein überfordert. Mit gleich zwei Exemplaren, die an einer Kette hingen, hauten sie sich jetzt eigentlich nur noch selbst auf die Fresse, was wiederum immerhin für gefährlich aussehende Hämatome in den Gesichtern sorgte, und das war ja wenigstens ein Anfang.

„Was ist jetzt mit ‚Scream‘?“ fragte ich ungeduldig.

„Wer ist das denn?“ Michi hatte die Hände hinterm Kopf gefaltet und blickte abwesend zur Decke.

„Na, die Band!“ wiederholte ich. Ich war sauer, denn mit soviel Desinteresse hatte ich nicht gerechnet.

Zugegeben, die Idee einer gemeinsamen Band war nicht ganz ausgereift, zumal ich erst seit kurzem Gitarrenunterricht bekam und Michi überhaupt kein Instrument spielte, und, wie er stets erneut laut bekundete, auch nicht beabsichtigte, das je zu ändern.

Dennoch hatte ich ihm nach und nach die Rolle des Sängers schmackhaft machen können, vor allem, nachdem inzwischen alle anderen unserer Gangs aufgrund alterungsbedingten Desinteresses der Beteiligten ihre Läden geschlossen hatten.

Unser Detektivbüro „Falken“ mit meinem Nachbarn Uwe: Dicht. Unsere Straßengang „Falken“ mit Kasim, Thomas und meinem Nachbarn Uwe: Aufgelöst. Unsere Blasrohrbande „Steinadler“ mit Janosch, Holger, Kai und meinem Nachbarn Uwe: Wegen des Bandennamens komplett zerstritten. Die eigentliche Ursache für alles lag wohl darin, dass wir einfach aus den Spielereien rauswuchsen, dennoch überlegte ich manchmal, ob nicht vielleicht doch eher Uwe, mein Nachbar, der Grund dafür gewesen sein könnte.

Aber wie auch immer, ganz ohne Kollektiv war das Leben scheiße, und eine Band war schließlich auch was, wo man noch reinwachsen konnte. Kurz hatte ich mit der Idee geliebäugelt, auch meinen Nachbarn Uwe in die Band zu holen, sie dann aber vorerst auf Eis gelegt, wir waren noch wegen der Steinadlersache zu sehr im Streit.

Michi hatte sich ja zum Glück letztlich zur Bandgründung überreden lassen, aber dann überrollte plötzlich die Nunchakuwelle unser Soziotop, und aus angehenden Erwachsenen wurden in einem letzten Aufbäumen vorm Ernst der Adoleszens doch noch einmal mysteriöse Einzelkämpfer ohne Schwerkraft und Moral.

„Ach ja, die Band, die Band…“, er gähnte demonstrativ, sah dann aber meine Enttäuschung, und setzte sich auf. „Klar, die machen wir ja auch noch. Aber wieso ‚Scream‘? Ich dachte, wir heißen ‚Falken‘?“

Endlich hatte ich seine Aufmerksamkeit und konnte erzählen. Da ich nach der Schule immer bei meiner Oma zu mittag aß, musste ich täglich mit dem Fahrrad den Rennenberg rauf, an Kirche und Friedhof vorbei und mich wie blöd abstrampelnd, weil mein Rad nur eine verschissene Dreigangschaltung hatte, also bergtechnisch völlig inadäquate Ausrüstung für komplette Idioten, doch da konnte man ja argumentieren und erläutern, da hörte einem kein Elternteil vernünftig zu. Furchtbar, aber für die Story egal, jedenfalls, als ich mich da heute wieder fluchend hochgequält hatte, war mir etwas ins Auge gefallen.

Es war etwas anders als bisher: Auf der Mauer, gegenüber dem Friedhof, prangte ein großer Schriftzug. „Scream“.

Irgendjemand hatte das in Großbuchstaben in leuchtender Farbe hingemalt. Oder gesprüht, vielmehr. Nur „Scream“. Ohne Bild oder Erklärung. Die Mauer war etwa brusthoch und dunkelgrau gestrichen und die Lettern hoben sich grell und bedrohlich von ihr ab. Sie schrien tatsächlich fast in die Welt hinein. Ich blieb fasziniert davor stehen. Irgendwann traute ich mich sogar, den Schriftzug anzufassen. Zögernd, um keine Fingerabdrücke drauf zu hinterlassen, oder anderweitig in Verdacht zu geraten. Die Schrift war schon trocken. „Scream“.

Ich hatte noch keine genaue Ahnung, was das auf deutsch heißt, doch das schlug ich natürlich gleich zuhause im Dictionary nach. Aber alleine die Anordnung der Buchstaben und der Sound des Worts weckten irgendwas in mir. Etwas wildes, unberechenbares, und ich wusste sofort, dass das einfach perfekt zu meiner Band passen würde, völlig egal, was für Mucke wir später machen würden.

„Es heißt ‚Schrei!‘.“ erklärte ich jetzt Michi. Michi überlegte kurz.

„Okay. Aber warum sollen wir ‚Schrei!‘ heißen? ‚Falken‘ war doch gut. Was soll ‚Schrei‘ überhaupt bedeuten? Haben wir Angst oder was? Wer schreit denn in einer Band? Ich bin doch Sänger, kein Schreier. Und überhaupt: Englisch? Soll ich jetzt englisch singen? Ich dachte, wir machen sowas wie Hubert Kah oder Peter Schilling oder so. Glaubst du, Falco würde sich ‚Scream‘ nennen? Nie im Leben! Auf jeden Fall, englisch kann ich nicht singen, hab ich auch keinen Bock zu!“

Ich pfiff durch die Zähne und war baff. Schiete. Ich hatte totale Euphorie erwartet, keine Gegenwehr. Trotzdem wollte ich den Namen nicht einfach so aufgeben und versuchte, mit Paul Hardcastle und „Opus“ zu  argumentieren.

„Soviel englisch wie die kannst du doch locker auch, du hast das doch schon seit der Fünften.“ sagte ich, aber Michi ließ sich nicht beirren.

„Das ist schwer, davon hast du keine Ahnung, mit deinem öden Latein.“ sagte er. „Und außerdem heißen die alle immer noch nicht ‚Schrei‘.“ Er winkte ab.

„Nee, nee, lass mal. Ich weiß ja sowieso noch gar nicht so genau, ob ich da mitmachen will.“

„Wieso das denn jetzt auf einmal?“ Ich war schokiert. „ Nur wegen ‚Scream‘?“

„Quatsch. So allgemein. Ich meine, zu zweit Musik machen, geht doch eigentlich gar nicht. Ich meine, wie soll das denn gehen? Ich singe, okay, aber du spielst dazu dann immer nur den ‚König von Thule‘ oder wie?“

Damit hatte er mich dummerweise, denn bislang waren meine Gitarrenkünste wirklich ziemlich rudimentär, zumal ich auch eigentlich fast nie die Lust verspürte, die Klampfe auch nur anzufassen. Fließend fast fehlerfrei konnte ich inzwischen nur den erwähnten „König von Thule“ und „An den Ufern des Mexiko River“, und das auch nur deshalb, weil ich für beide exakt die gleiche Akkordfolge nutzte, und zwar ohne Rücksicht auf die Realität. Immerhin, ich spielte den fidelsten Country-König von Thule der ganzen Welt.

„Ja, das ändert sich aber, wenn ich erstmal die E-Gitarre hab‘! Dann geht’s ab.“ behauptete ich, dann gingen mir die Argumente aus. Mir war völlig klar, dass ich in hundert Jahren keine E-Gitarre bekommen würde, schließlich waren meine Eltern nicht völlig verblödet und kriegten ja mit, wie wenig Ehrgeiz ich fürs Gitarrespielen aufbrachte. Es war auch eher so eine theoretische Planung von mir, eher so angedacht, dass ich eines Tages morgens aufstehen, einer Eingebung folgend spontan die Gitarre aus dem Koffer holen, und plötzlich aus dem Nichts fehlerfrei komplizierteste Flamenco-Riffs aufs Griffbrett zaubern könnte. Dann wäre die E-Gitarre nur noch eine logische Konsequenz, und nachdem das Schicksal mir bisher die Erfüllung ähnlicher Vorstellungen bei Judo, Fremdsprachen und Mathekenntnissen verwehrt hatte, lag der Ball nun eindeutig auf dessen Seite.

Um damit jetzt Michi zu überzeugen, war es allerdings ungeeignet, zumal der sowieso gerade viel zu sehr damit beschäftigt war, sein Ersatz-Nunchaku kritisch zu beäugen.

„Hm, für einen Zweikampf reicht es vielleicht. Aber eigentlich sind die zu leicht, um richtig abzugehen, oder?“ Er sah mich fragend an und ließ das Nunchaku prüfend durch die Luft wirbeln. Es bestand aus zwei hölzernen Suppenlöffen, die mit einer verkürzten Schlüsselkette zusammengetackert waren. Nicht besonders beeindruckend.

„Au!“

Er hatte sich einen Löffel gegen die Nase geknallt.

„Das ist Scheiße! Die geh’n gar nicht!“  Er rieb sich die Nase und meinte: „Ich brauch dringend richtige Schlaghölzer. Bei der Gärtnerei Zanders im Seitenhof liegen immer gute Teile rum, da klauen wir welche. Wir müssen uns aber beeilen, sonst sind keine mehr da.“

„Wieso das denn?“

„Uwe hat ne neue Ninjabande. Die Steinadler. Die brauchen auch alle noch die Dinger für Nunchakus, da müssen wir unbedingt schneller sein.“

„ Aha. Und wieso ‚wir‘?“ bockte ich.

„Einer muss doch Schmiere stehen. Die haben Hunde, glaub‘ ich. Also ab dafür!“

Er drängte sich an mir vorbei zur Tür, aber ich hielt ihn am Ärmel fest.

„Ich komm‘ aber nur mit, wenn du dann bei der Band doch mitmachst.“ verlangte ich mit fester Stimme.

„Ja, ja, ist gut, aber lass‘ jetzt endlich los!“ sagte Michi gehetzt.

„Und wir heißen ‚Scream‘!“ pokerte ich weiter, doch nun hielt er inne.

„Darüber reden wir noch. ‚Falken‘ ist einfach besser.“

„’Scream‘ ist besser!“

Wir standen uns gegenüber. Pattsituation. Dann hatte Michi die rettende Idee: „Münzwurf, okay?“

Das war ein fairer Plan, und mit einer fifty-fifty- Chance stand ich definitiv besser da als bisher.

„Okay.“ Ich willigte ein.

Die Falken gab es dann für etwa vier Tage, dann wurden sie von den Steinadlern absorbiert und machten gemeinsam als Fahrradrüpel eine Weile von sich reden, beinahe sogar über die Grenzen Oberdollendorfs hinaus bis rüber nach Niederdollendorf. Wie gesagt, beinahe.

Das Graffiti „Scream“ blieb noch für viele Jahre auf dieser Mauer, und weiterhin faszinierte es mich auf die gleiche Weise wie beim Erstanblick. Immerhin hieß meine etwas später real existierende Punkband „Innocent Persons“ für etwa eine halbe Stunde tatsächlich dann „Scream“, gerade lange genug, um ihn für ein selbstgemaltes Plakat im Proberaum in der Kellerwohnung unseres Elternhauses  zu benutzen. Das Plakat imitierte den berühmten Sex-Pistols-Schriftzug:

„Never Mind The Scream, here’s The Innocent Persons!“ Heftig Hardcore.

Der Proberaum wurde später zu meinem Wohnzimmer, nachdem ich auszog dann das Zimmer meines Bruders, dem Ex-Innocent Persons-Trommler himself, nachdem der auszog, wurde es zum Gästezimmer, und jetzt im Moment bin ich der Gast, und sitze auf dem Bett unter der Wand,wo einst das Plakat hing, ca. 35 Jahre später, und durch meinen Kopf kreisen Zeiten und Erlebnisse, und ich weiß natürlich inzwischen, dass es damals bereits eine Band namens „Scream“ gab, und dass später sogar Dave Grohl da trommelte. Dave Grohl und mein Bruder, beide trommelten bei „Scream“,  und ich war der Sänger und Gitarrist. Dieser Satz ist Fakt.

Wer aber im beschaulichen Oberdollendorf am Rhein 1985 womöglich bereits von dieser Band gewusst haben soll, und diese darüber hinaus vielleicht auch noch als Anlass dafür nahm, das erste offizielle Graffiti des Dorfs zu erschaffen, also das bleibt für mich eins der größten Mysterien überhaupt. In mir entfachte es jedenfalls ein erstes Gefühl von Punk, bevor ich überhaupt was von Punk ahnte.

Ich glaube, Mysterien sind wichtig für Rock’n Roll, denn die schüren die Sehnsucht und würzen mit Wildheit und machen die ganze Akkordarbeit erst so richtig gefährlich. Sonst kann man sich ja gleich „Steinadler“ nennen und Besenstiele beim Gärtner klauen. So, aber nun genug davon, ich geh‘ mal gucken, was Uwe so macht. Funfact: Der war mal mein Nachbar.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 15. März 2022 veröffentlicht.

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