Juni: Nachhilfe im Stagediving

Ich konnte heute überraschend ein echtes Gefühl meiner Kindheit reanimieren, indem ich von einem Baum fiel. Absolut erfreuliche Sache, zumal in den letzten Tagen bereits dauerhaft eine andere Kindheitserinnerung in mir rumspukte, denn ich hörte ohwurmmäßig über die Titelmelodie der eher trüben Kochwettkampfserie „Mein Lokal, Dein Lokal“ eine Dame anstelle des Originaltextes ständig wiederholend „Gesenkte Sau, gesenkte Sau…“ singen, was die Lieblingsformulierung meiner Mutter für alle Straßenrabauken war, egal ob Drängler mit BMW oder Sohn mit BMX.

Ein patenter Sturz vom Baum war aber noch um einiges intensiver, denn dieser kurze Moment, in dem man erkennt, dass man kein Eichhörnchen ist, und oben und unten eins werden, wirkte wie ein Zeitsprung in einen Topf Käpt’n Nuß. Ich hatte sogar Glück, da ich nicht mal im benachbarten Tümpel landete, etwas schade hingegen, dass der Baum inmitten von Dornenbüschen stand. Dennoch, mehr Tom Sawyer-Feeling hatte ich sicher seit über 30 Jahren nicht mehr. Ich ächzte, klopfte mich ab, besah‘ neugierig die Kratzer auf den Unterarmen und frischen Grasflecken auf den Jeans und war durchaus stolz auf mich, denn vom Baum fällt heutzutage kaum noch einer meiner Freunde. Wie gesagt, auch ich hatte bis heute den letzten Baumsturz mit spätestens elf oder 12 Jahren, allerdings vom heimischen Kirschbaum, und mit dem Gesicht direkt auf einer freistehenden Wurzel landend. Danach war meine Kletterkarriere etwas ins Stocken gekommen.

Das, was dann in der Adoleszenz solchen Erlebnissen am nächsten kam, war Stagediving.

Ich muss schon mindestens 17 Jahre alt gewesen sein, semiprofessionell im Bereich Gymnasiastenpogo, und es kam ganz ungeplant. Wir waren extra aus Bonn zur Essener Zeche Carl gedüst, Jörg, Nick, Floh und ich, denn die famosen „Toy Dolls“spielten dort auf. Es war ein Mörderkonzert, der Saal war rappelvoll, die Band heizte ab dem ersten Ton ein und wir pogten vorsichtig im hinteren Drittel des Raums, denn vorne waren die echten Punks und Skins beschäftigt, und wir wollten schließlich nicht stören. Beeindruckend waren die Kerle, die da permanent auf die Bühne sprangen und runterhüpften, geradewegs zurück in den Strudel der Pogogewalt, der sie aber nie schluckte, sondern dank erhobener Hände gerade so lange trug, bis die Diver sich wieder halbwegs unter Kontrolle gebracht hatten. Natürlich war Stagediving an sich nichts Neues für uns, gesehen hatten wir das schon oft, auf Konzertvideos und auch hier und da bei Festivals, sogar Johnny Depp hatte das mal in der Serie „21 Jump Street“ gemacht, sogar von einem Boxenturm runter, weil er sich in irgendeine Punkergang reinsnitchen wollte, um da gegen die Punks zu ermitteln, die blöde Bullensau (O-Ton unwissender Teenager), aber heute war alles direkter und näher und auch der Raum pulsierte viel energiegeladener. Wir hätten das ganze Konzert  derart beeindruckt zuschauen können, aber zwei Faktoren änderten alles: Erstens hatten wir Bier getrunken, und zweitens waren wir in Begleitung zwei Essener Damen, die Jörg kannten und bei denen wir heute übernachten durften, selbstverständlich mit vorheriger elterlicher Abgesprache.

Wie feige Pfeifen wollten wir vor ihnen also nicht wirken, und nachdem Jörg irgendwann tönte, „es sei jetzt Zeit, mal selbst zu springen.“, blieb uns ja nichts anderes mehr übrig, als mitzumachen.

Im Nachhinein stellte sich raus, dass er das nur als Gag gemeint hatte, wir aber zu blöd gewesen waren, den zu kapieren. Es zeigte sich aber, dass es ein unglaublicher Spaß ist, auf Bühnen zu klettern, kurz neben den Helden der Musik zu stehen, das Herz im kompletten Körper klopfen zu spüren, Anlauf zu nehmen und dann den Dingen ihren Lauf zu lassen. Es gilt nur, den Leuten im Publikum die Zeit zu geben, dich zu registrieren und  erst dann zu hüpfen. Und mit Füßen voraus ist Arschlochtechnik. Alles andere ist dufte und ein Moment purer Freude. Da ich in Sachen Maßhalten seit jeher eher mäßig talentiert bin, konnte ich nicht mehr aufhören, kletterte wieder und wieder auf die Bühne, sprang, ließ mich tragen und grinste glücklich. Jedenfalls bis zu dem Moment, an dem ich plötzlich spürte, wie sich etwas um meinem Hals schnürte. Es war das Gitarrenkabel von Bassist K’Cee, das der Stagediver nach mir versehentlich mit den Füßen im Sprung mitgerissen hatte, und das die Roadies nun zur Bühne zurückzogen. Leider hatte es sich über Kreuz um meinen Hals gelegt, weshalb ich nun immer fester stranguliert wurde, während ich nach vorne zur Stage geschleift wurde, selbstverständlich direkt durch die Pogomeute, die nichts von alldem  mitbekommen hatte und wild weitertanzend gegen mich hoppste. Ich war etwas außer Atem und bläulich verfärbt, als ich dann am Bühnenrand ankam und die Roadies die Situation erkannten. Aber das war’s wert gewesen, denn zwar hatte ich für den Rest des Abends nicht mehr die Puste für weitere Sprünge, aber dafür erzählte mir Jörg anschließend, dass Sänger Olga echt erschrocken geguckt hätte, als ich da vor die Bühne gezerrt worden war. Kann aber auch sein, dass er mich nur etwas darüber hinwegtrösten wollte, dass er inzwischen bei der Essener Dame gelandet war, die ich eigentlich anvisiert hatte. Jump to Love. Mit den Füßen voraus, sozusagen.

Aber mit Stagediving hatte ich jedenfalls wirklich was für mich entdeckt, trotzdem sollte es noch einige Jahre dauern, bis es zum nächsten nennenswerten Ereignis kam. Anlässlich des Albums „13“ gaben die Ärzte ein  Geheimkonzert als „Paul“ in der alten Kölner Kantine, und wie durch ein Wunder hatten wir Karten dafür ergattern können. Ich weiß noch, dass Kleinti von „Joint Venture“ dabei war, sich aber lieber auf- und abgeklärt professionell an der Bar aufhielt, während ich mit einigen Unifreunden im Pogokessel feierte. Weil ich bereits damals über enorm sicheren Sinn für subtiles Styling besaß, trug ich extra ein OP-Hemd aus dem Krankenhaus, in dem ich jobbte, denn „Ärzte“ und „OP-Hemd“, ja, ja, schon gut, Schwamm drüber. Jedenfalls war der Club zwar brechend voll, hatte aber eben nur eine Kapazität von etwa 1000 Leuten, was im Ärzte-Kosmos eher Wohnzimmerdimension sein dürfte. So war es gar nicht so schwer, zum Bühnenrand zu gelangen, und da damals die Bühnenabsperrungen oftmals noch nicht allzu übervorsichtig aufgestellt waren, war die Stagedivefrequenz äußerst ordentlich. Auch ich wollte da natürlich mittun, denn zum einen hatte ich, ganz entgegen meinem Fake-Naturell, viel Bier getrunken, und zum anderen hatte ich, neben der generellen Lust auf Springerei, einen genialen Plan ausgeheckt. Nun ist es ja so, dass ich schon recht lange musiziere, größtenteils als Liedermacher. Immer wieder melden sich darum Bands oder SongwriterInnen bei mir und schicken mir Links zu ihren Songs. Manche sind gut, manche sehr gut. Manche wiederum haben beispielsweise Namen oder Songtitel, die es einem leicht machen, sie nicht zu hören. Aber KollegInnen zu kontaktieren, ist heutzutage dank der sozialen Medien unglaublich einfach. Es gab aber natürlich auch eine Zeit, bevor es derart leicht war, KollegInnen oder Bands oder gar Idolen zu schreiben und Songs zu schicken, und ich berichte hier von so einer Zeit  – einer Zeit vor irgendwas, was es jetzt gibt, damals aber noch nicht, sucht Euch aus, was das sein könnte, zum Beispiel „Brauner Bär“-Eis, ich glaube, es gab in dem Jahr oder Monat gerade mal kein „Brauner Bär“-Eis, egal, war eh nur Altherrengefloskel –  jedenfalls wollte ich natürlich unbedingt, dass die Ärzte meine Musik zu hören bekamen und ich glaubte, die Möglichkeit dazu würde nie wieder so groß sein, wie hier und heute in der Kantine. Also hatte ich ein Demotape samt Brief an die Band eingepackt,  den Brief anredetechnisch sicherheitshalber an alle drei gleichermaßen formuliert, um sicher zu gehen, dass nachher keiner von ihnen beleidigt wäre, weil er nicht erwähnt worden war, und nun musste ich das Ding nur noch irgendwie auf die Bühne bringen, ohne dass die Kassette kaputt ging, dann wäre die Sache geritzt. Denn dass die Ärzte Fans meiner Songs sein würden, sobald sie sie erstmal gehört hätten, lag auf der Hand, immerhin fand ich ihre Musik auch gut. Beweisführung abgeschlossen.

Irgendwann war es soweit, der Song, den sie just spielten, war laut und schnell, und zum letzten Refrain hatte ich es tatsächlich nach oben geschafft, warf vorsichtig die Kassette in Richtung Rod, weil Farin aus der Nähe doch zu furchterregend groß für mich war, und ließ mich von der Bühne fallen. Ich lag auf vielen Händen und war selig, da spürte ich, wie mich jemand am Hosenbund griff und einfach wieder zur Bühne zurückzog. Hilflos rutschte ich über die Hände, mein Blick verschwamm vor Aufregung und ich wusste, jetzt würde ich wohl getötet wegen irgendwas, wahrscheinlich wegen meinem Demotape, dass ich jetzt bestimmt fressen müsste oder sowas.

Dann griff mich eine zweite Hand am Hemdkragen und stellte mich auf. Ich stand mitten auf der Bühne vor einem großen Rocker-Roadie, der mich autoritär anfunkelte, während die Ärzte unbeeindruckt weiterspielten.

„HIERsprizuzntgewfdffdgG!“ brüllte er mir ins Ohr. „…was?…“ frug ich kleinlaut zurück, in nackter Panik, die falsche Antwort zu geben. „Hier springt keiner, wenn ich nicht sag: Spring.“ Er nickte in Richtung Publikum: „Spring!“ Weil ich versteinert war, musste er seine Aufforderung wiederholen, dann durfte ich endlich von der Bühne hüpfen, froh, nochmal  ohne größeren Schaden  aus der Nummer rausgekommen zu sein, dummerweise endete das Lied ebenfalls genau jetzt, und ich hörte nur Farin Urlaubs Stimme irgendwelche Sachen in die Stille rufen, unter mir eine Legion kichernder Menschen, die mich gut sichtbar für den ganzen Saal weiter über ihren Köpfen trugen, und es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis ich wieder in der Menge untertauchen durfte. Wahrscheinlich hatte die durch mein Intermezzo verursachte Ewigkeit das Konzert mindestens zwei Lieder gekostet. Auch unbemerkt in der Menge zu verschwinden war fast unmöglich für mich, weil ich hier schließlich der einzige Trottel im OP-Hemd war, irgendwie fand ich aber zurück zu meinen feixenden Freunden, die zumindest wiedergeben konnten, was Herr Urlaub da eben gesagt hatte. Anscheinend hatte er sich wortreich darüber ausgelassen, wie lehrreich Ärztekonzerte sein konnten, wenn man sich anschaute, wie hier gerade sogar Nachhilfe im Stagediven gegeben wurde. Den Rest des Konzerts blieb ich eine Ampel, grasgrün das Hemd und tomatenrot der Kopf, und ich verzichtete auf weitere Bühnenaktionen, sondern trank lieber noch rasch zuviel und freute mich schon mal auf morgen, denn bis dahin hätten die Ärzte sicher mein Tape gehört und sich begeistert bei mir gemeldet, dann würden wir alle über das heute Erlebte herzlich lachen können. Und genauso kam es ja dann auch, wie Ihr wisst: Seit  1998 bin ich Mitglied bei den Ärzten, habe Hit um Hit geschrieben, und alle sind mir dankbar für meinen Stagedive samt Demotapewurf damals. Band und Publikum. Denn ohne diese heroische Aktion hätte es die meisten Hits von uns wohl niemals gegeben. Uns geht’s prima, würde ich mal behaupten. Wenn nur dieser Kopfschmerz nicht wäre. Ein bißchen verschwimmt gerade die Realität: Hat mich damals Bela angerufen oder Breiti? Und wer von beiden spielt jetzt nochmal Saxophon bei den Toy Dolls?  Vielleicht war der Baum doch höher als gedacht.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of LiedermachingDie Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 15. Juni 2020 veröffentlicht.

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