Januar 2023, das Jahr, in dem Rock’n’Roll irgendwas. So ungefähr wird’s später in den Geschichtsbüchern stehen. Ich, jedenfalls, bin gerade etwas angespannt, weil der Zahnarzt bis zu den Ellenbogen in meinem Gesicht steckt und dabei ziemlich angestrengt schnauft. Immer wieder lösen sich Schweißperlen von seiner Stirn und tropfen mir in die Nasenlöcher, und ich muss möglichst unauffällig nach Luft schnappen, dabei bin ich schon vollauf damit beschäftigt, wortreich mein Bedauern darüber zu grunzen, dass der arme Mann soviel Mühe mit mir hat. Wir kennen uns jetzt schon eine ganze Weile, und ich habe den Eindruck, dass er stets leise seufzt, bevor er mich begrüßt. Ich kann ihm das nicht verübeln, jahrzehntelange Misswirtschaft mit sehr viel Nikotin und sehr wenig zahnzwischenräumlicher Inbrunst haben meine Schnauze in eine dauerhafte Problemzone verwandelt. Ich sag mal so, seit ein paar Jahren höre ich Shane MacGowan mit ganz anderen Augen.
Zahnarztbesuche passen insofern ganz gut zum Jahresanfang, weil man nachher immer mit ganz vielen duften Vorsätzen rausgeht, das kann man gut mit den Neujahresvorsätzen verbinden und so zwei Fliegen mit einer Klappe klatschen. Interdentalbürsten statt Kippen, Karotten statt Whopper und Listerine statt Pfeffi, zum Beispiel. Ist doch ein guter Anfang, oder?
Ich hatte mir ausnahmsweise zum Jahresbeginn auch mal was vorgenommen, und zwar, alkoholmäßig kürzer zu treten, denn da ahne ich Bedarf. Eigentlich war mir das als Vorsatz etwas zu mainstreamig, aber Originalität ist eben nicht für alle Belange das zweckdienlichste Prinzip. Lieber hätte ich mir natürlich vorgenommen, dieses Jahr meinen wichtigen Papierkram mal so richtig zu vernachlässigen, denn das hätte als Statement in lässigen Smalltalkrunden bestimmt für Furore gesorgt, doch erstens wäre das Unterlagenchaos in meinem Fall sowieso kaum mehr zu toppen gewesen, und zweitens rede ich in lässigen Smalltalkrunden eigentlich eh ausschließlich über Katzen oder MASH.
Anyway, ich kann stolz verkünden, dass ich es nicht auf die lange Bank geschoben habe, mit genanntem Vorsatz zu brechen, denn die hochgeschätzte Punkrockkapelle „Die Schröders“ ging in Hamburg vor Anker. Wow, Schifffahrtsslang wegen Hamburgkontext. Ich bin schon eine Stilgranate. Aber immerhin: „Schifffahrtsslang“ sieht aus und klingt fast wie ein Ungeheuer aus Harry Potter. „Vorsicht!“ schrie Hermine, doch ihre Warnung kam zu spät. Blitzschnell war der monströse Schifffahrtsslang aus einem Riss im Kellergewölbe hervorgeschnellt und hatte gierig seine scharfen Fangzähne in Rons linke Wade vergraben. Noch bevor Harry seinen Zauberstab aus der Manteltasche fummeln konnte, hatte sich der mächtige Molluske bereits samt Beute geschwind wieder in die Mauern Hufflepuffs geschlängelt und nur Rons letzter Schrei blieb als Echo zurück und hallte vielfach von den Wänden der Katakomben wider.
Keine Bange, Folks, Ron wird nachher gerettet. Irgendwas geniales mit Zauberdampf, und nachher kann Ron sogar mit Mollusken reden, was sich allerdings als ziemlich unnütz erweist. Die Episode spielt übrigens in Hufflepuff, weil mir die profilneurotischen Slytherin und Gryffindor auf den Sack gehen und ein Schifffahrtsslang in Ravenclaw ja wohl etwas unrealistisch wäre. Was sollte der da denn schon wollen?
Zurück zu den Schröders: Es ist sicher kein Geheimnis, dass ich sehr freundschaftliche Gefühle für die Herren hege. Also, jedenfalls kein gehütetes Geheimnis. Gut möglich natürlich, dass ihr, meine lieben LeserInnen hier, das trotzdem nicht wisst. Schließlich gibt’s durchaus aufregenderen Gossip. Zum Beispiel über Bushido und seine Gefühle für alle, denn da kommen wenigstens auch Kraftausdrücke vor. Bei meinem Verhältnis zu den Schröders kann ich höchstens das Kraftwort „verdammt“ verwenden, und auch das nur in dem Satz: Ich habe die Schröders verdammt lieb. Alle viere, versteht sich, auch wenn ich zu Sänger Burger die innigste Verbindung habe, schließlich ist er seit nun bereits 20 Jahren mein Bühnennachbar bei den Monsters of Liedermaching. Hihi, da stand zuerst „Bohnennachbar“. Meine Tastatur hat wieder einen Clown gefrühstückt. Falls ihr, werte LeserInnen, nun die Monsters of Liedermaching nicht kennt, nehme ich euch auch das nicht krumm, ich weiß ja auch nicht, neben wem ihr so seit 20 Jahren auf der Bühne sitzt.
Als ich zum ersten Mal von den Schröders hörte, war ich übrigens nur mäßig begeistert, denn für mich kamen sie einfach ein paar Jahre zu spät. Ihr Hit „Lass uns schmutzig Liebe machen“ schlug ein, als ich den Funpunk ziemlich hinter mir gelassen hatte, und mich eher auf Foyer des Arts, Rollins Band und Fischmob verlagert hatte. Letztere spielten um 1995 oder 96 im Kölner „Underground“ und ich war mit Kleinti von „Joint Venture“ vor Ort. Wenn euch jetzt die Namen Kleinti und/oder Joint Venture auch nichts sagen, dann möchte ich nun doch mal genervt mit den Augen rollen und euch zwecks Eigenrecherche an Ecosia verweisen.
Kleinti und ich waren aus unterschiedlichen Gründen auf dem Konzert: Ich wollte die Musik hören und DJ Koze heiraten, Kleinti wollte rausfinden, ob mit den erwähnten „Joint Ventures“ auf der Grußliste des Fischmob-Albums „Männer können seine Gefühle nicht zeigen“ seine eigene Band gemeint war. Anbei: Ich kenne die Antwort. Als wir beide vor Konzertbeginn am Tresen des Clubs standen, waren uns leider recht schnell die Gesprächsthemen ausgegangen, denn Kleinti interessierte sich nicht besonders für Katzen oder MASH. Also erzählte er, nach einer langatmigen Diskurslücke. von einem Festival, auf dem Joint Venture kürzlich gespielt hatten, und zwar, wie er mit kaum verstecktem Stolz betont cool erwähnte, „direkt vor den Schröders, kennste ja.“
Ja, kannte ich. War aber gleichzeitig auch das erste Mal nicht von seinen Starkontaktberichten beeindruckt, denn die Schröders waren halt die Schröders, und nicht zum Beispiel die Goldenen Zitronen oder wenigstens die Hosen. Was mich im übrigen trotzdem nicht daran hinderte, seine Story im gleichen Tonfall meinem sieben Jahre jüngeren Bruder später unter die Nase zu reiben, denn soweit ich mich erinnere, war damals der Song „Frau Schmidt“ ein amtlicher Hit in seiner Clique. Und mit Sicherheit werde ich die Story irgendwie so gedehnt haben, dass ich auch drin vorkam, denn ich war schon damals ein echt dämlicher Hund.
Das war es aber auch vorerst mit mir und den Schröders, denn dann kamen Fischmob auf die Bühne, zerlegten das Underground und anschließend war ich erstmal mit Studiumversemmeln beschäftigt, bis ich wieder Zeit für die Funpunker fand. Jene Zeit werde ich alsbald in meinem ersten Erfolgsroman verbraten, drum flugs „Hex, Hex“ und huch, wir haben 2002, ich Burger bereits als Solist auf diversen Liedermacherfestivals kennengelernt, und durfte als Vorprogramm auf ihren traditionellen zwei Weihnachtskonzerten im heimischen Bad Gandersheim spielen.
Ich hatte zwar schon einige Erfahrungen als Support für Rockbands gesammelt, denn ich hatte gerade eine Tour mit dem grandiosen Vicki Vomit und seinen Mutschekübchen of Death hinter mir, aber besonders egogestärkt hatten mich die Konzerte nicht gerade. Vickis Publikum war nicht gerade voll der Freude gewesen, über einen nervösen Wessi-Liedermacher, der die Wartezeit bis zu Vicki Vomit weiter verlängerte, und meine Songs über Marion, Zwerge und Häschen konnten das Ruder meist auch nicht unbedingt rumreißen.
Bei den Schröders rechnete ich mir indes bessere Chancen aus, nicht zuletzt, weil hier im Vorjahr bereits mein Liedermacherkollege Fred Timm als Supportact, laut Erzählungen aller, derbe abgeräumt hatte. Ich war also nur komplett aufgeregt, als ich nach der ersten Band des Abends, „Ego“, auf die Bühne kletterte, mich auf den Hocker setzte und mir dachte: „Jetzt wird’s abgehen.“ Tat es auch, und zwar in Form von fliegenden Bierbechern, die auf mich prasselten. Das war nicht ganz die Reaktion, die ich erwartet hatte, denn schließlich war ich doch ein netter Kerl. Sogar bei Vickis schlimmsten Abenden war ich nie beworfen worden, da hatte es nur zu Buhrufen und höchstens Gästebuchdrohungen à la „Wir brechen dir die Hände, wenn du nochmal kommst!“ gelangt. Vielleicht aber auch nur wegen des Flaschenpfands und der großflächigen Totaltrunkenheit, sowie der damit verbundenen Zielunfähigkeit des Publikums. Bei den Schröders aber war das Publikum jünger und fitter. Hier flogen mir die Becher nur so um die Ohren, und ich schätze, ein großer Fehler war, dass ich als Sitzbarde ein ziemlich leichtes Ziel abgab. Um die Masse zu beruhigen, versuchte ich es noch mit der Ballade „Systemficker“, und dadurch lernte ich dann, dass es nicht zwingend die Stimmung runterkocht, wenn man einfach noch langsamer wird. Nach einer halben Stunde verließ ich die Bühne und ging theoretisch nochmal meine Möglichkeiten zur sofortigen Dematerialisierung durch. Am nächsten dran kam Volltrunkenheit, das testete ich, und schon kurz darauf fand ich mich wild tanzend bei meinem ersten Schröderskonzert wieder, die ganz entgegen all meiner juvenilen Vorbehalte, ein ganz grandioses Konzert voller Energie und schöner Perlen gaben. Ab und an wurde ich beim Pogotaumel im Moshpit erkannt, dann musste ich vereinzelten Nachzüglerbechern ausweichen, aber jetzt konnte ich ausweichen, und die Promille schmeichelten insgesamt meiner Selbstwahrnehmung. Der Rest der Nacht versank im Nebel.
Am zweiten Tag hatte mich der Katzenjammer wieder, doch Burger nahm mich zur Seite, drückte mir seine Gitarre in die Hand und befahl: „Du spielst heute im Stehen!“ Das stellte sich als sehr gute Idee raus, denn heute hatten auch die Becherwerfer vorgebaut und sich bereits im Vorfeld ganze Becherarsenale zusammengetrunken. Es hagelte durchgehend auf die Bühne, aber ich war jetzt beweglich, duckte, hüpfte, sprang umher, und ich schätze, so entstand mein charakteristisches Bühnengetanze. Außerdem sang ich nur schnelle, kurze Lieder, um nicht allzu lange am Mikro festzustecken, und das half zusätzlich auch, die Pogostimmung im Saal anzukurbeln. Ein ungeplantes Showbonbon war zudem, dass ich, sonst Nylonsaitengitarrist, mir bereits beim ersten Song an den Stahlsaiten von Burgers Gitarre die Finger aufriss, weshalb ich die Klampfe hübsch dramatisch vollblutete. Iggy Tott‘. Nach dem Auftritt fühlte ich mich wie Johnny Rotten, also der junge, gute Johnny Rotten, nicht der dumme Trumptrottelrotten, denn den gab es damals noch nicht. Spotify und Idiotenjohnny gab es damals noch nicht, es war eine gute Zeit.
Ich war schweißgebadet und komplett auf Adrenalin und ich fürchte, ich dachte fast wortwörtlich sowas wie „Yeah, Rock’n’Roll!“, ganz ohne Ironie und mit erhobenen Teufelchenfingern. Das anschließende Konzert der Schröders brannte noch mehr, zumal ich heute auch in der anderen Vorband des Abends, „Null Bock“, neue Freunde gefunden hatte, und wir quasi als Gang feiern konnten. Eine Freundschaft, die immer noch hält, wir haben gar zwischenzeitlich mal ein gemeinsames Album als „Muschikoffer“ aufgenommen, aber das steht alles in meinem Folgeroman zu meinem ersten Erfolgsroman, darum spule ich jetzt direkt zum Januar 2023, in dem die Schröders zweimal hintereinander im ausverkauften LOGO die Wände zum Beben bringen. Es sind zwei rauschende Feste mit vielen Freunden, der ganze Club ist eine wogende Welle, die Luft brennt und der Schweiß tropft von der Decke in meine Nasenlöcher, und ich muss möglichst unauffällig nach Luft schnappen, dabei bin ich vollauf damit beschäftigt, beidhändig zu trinken. Ich höre zauberhafte Lieder, „30 Meter“, „Nur wir zwei“ und „Tag der offenen Tür“ zum Beispiel, übrigens der Song, der mich zu meinem Türenlied inspiriert hat. Kennt ihr auch nicht? Leute, Leute…
Natürlich spielen sie auch „Frau Schmidt“, aber das mag ich nicht mehr, weil ich ihnen dereinst mal eine Fortsetzung dafür geschrieben habe, die sie jedoch völlig ignorierten. Ein prima Song über gerontophile Gedanken, ein bißchen vielleicht wie „Omaboy“ von den Ärzten, aber mit besseren Reimen: „Ich und Frau Schmidt, ich bin Harold, sie ist Maude / ich und Frau Schmidt, ich frisch erblüht, sie leicht verdorrt“ Usw. Na ja, eventuell doch ganz gut, dass das Lied nie das Licht der Welt erblickt hat. Ich habe auf jeden Fall an beiden Abenden mitunter zarte Tränen der Rührung und nostalgischer Freude in den Augenwinkeln. Aber nur, bis ich Pogo tanze, dann dreh ich naturgemäß komplett ab. Allerdings pro Abend nur für ein halbes Lied, dann werd‘ ich müd‘ und verzieh mich wieder nach hinten zu Bier und Jackett. Das ist der eine feine Unterschied zu damals. Der andere ist, dass ich keine Becher abkriege. Gefällt mir eigentlich auch ganz gut. Wer will sich schließlich heute noch wie Johnny Rotten fühlen? Eben. Obwohl, zahntechnisch seh‘ ich da durchaus Ähnlichkeiten. Aber das hatten wir schon weiter oben im Text. Hier unten kommt jetzt nur noch ein kurzer, kompakter Abschluss. Muss auch nichts mit den Schröders zu tun haben. Die solltet ihr aber unbedingt mal auf einem ihrer raren Konzerte besuchen. Doch jetzt something different. Irgendwas mit Message am besten. Ist ja schließlich noch ein frisches Jahr, da kann man’s ja mal probieren. Also, Obacht: Wettesser und WettesserInnen, ihr seid widerlich! Hört auf mit Wettessereien!
So, ich denke, das saß. Jetzt wird’s aber auch höchste Zeit für den Februar, der ist sowieso immer schon so eng gezäunt. Ich danke für eure Aufmerksamkeit.
Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.
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