Januar 2022: Breakdance Blutsbrüder

„Schokolade und Schnaps geht eigentlich immer!“ ruft Kochprofi Mario Kotaska euphorisch angesichts irgendeiner öden Nachspeise, die ein eifriger Küchenchef in der Sendung „Mein Lokal, dein Lokal“ kreiert hat. Ich schrecke aus meinen trüben Gedanken, meine Finger verharren über den Pfeiltasten, und die Tetrissteine türmen sich binnen einer Sekunde bis zur Decke.

Rums! Game over.

Mein Daily Work des laufenden Jahres: Tetris zur Youtubebegleitung. Tristesse banale, aber bislang reichte 2022 mir von seiner helfenden Hand ausschließlich den Mittelfinger.

„Schokolade und Schnaps, Schokolade und Schnaps…“ murmele ich nachdenklich, denn das triggert was in mir. Eine ferne feine Erinnerung, einen Moment des süßesten Zwiespalts.

Ich muss etwa zehn oder elf gewesen sein, jedenfalls nicht älter, und mein Kumpel Michi schlug an einem verregneten Tag zum wöchentlichen Besuch bei mir auf. Fraglos mein bester Kumpel, quasi mein Blutsbruder, denn beinah hätten wir uns damals auch verblutsbrüdert, als wir bei einem früheren unserer wöchentlichen Treffen mal wieder Winnetou gespielt hatten. Wir hielten es für an der Zeit, denn wir kannten uns von Geburt an, hielten zusammen wie Pech und Schwefel, und waren auch nicht weniger mutig als so ein dahergelaufener Apachenhäuptling. Außerdem hatte Michi zur Kommunion ein echtes Überlebensmesser geschenkt bekommen, also wurde es Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Dummerweise kriegten wir uns ausgerechnet kurz vor der heiligen Handlung darüber in die Wolle, ob Old Firehand cooler war als Old Shurehand, und zornbebend türenknallend stoben wir auseinander. Das war ebenfalls eine Regelmäßigkeit bei unseren Treffen, besonders vor allen künftigen Blutsverbrüderungsplänen.

Doch wie gesagt, das war quasi ewig her, locker ein halbes Jahr, inzwischen waren wir älter und weiser geworden, und unsere Interessen hatten sich verlagert. In jüngster Zeit trafen wir uns immer, um zu einer neuen Platte abzuhotten, die mir mein Onkel zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Eine heiße Scheibe mit dem neuesten Ding aus Amerika. Die Musik hieß „Breakdance“, und es gab sogar einen Tanz dazu, der sich „Robotertanz“ nannte, wie meine Oma fachkundig erklärt hatte, als Michi und ich unsere ersten Skills live vor ihrem Strickclub unter Beweis gestellt hatten.

Hier hatten wir mit diversen Aufführungen schon häufiger große Erfolge gefeiert, mit Tanz, Gesang oder Gedichten, je nachdem, was gerade der neueste Hype war. Unsere Robotertanzbewegungen, die wir realnessgemäß mit den Songs der Breakdance-Boogie- LP unterlegt hatten, kamen ebenfalls sehr gut an, wenn auch nicht ganz so gut wie unsere Acapella-Coverversion vom Volksmund-Song um die zwei Knaben, mit dem wir ein paar Jahre zuvor geglänzt hatten. In jenem Song erlebten zwei Knaben wilde Abenteuer, die immer irgendwie mit halb zensierten Unanständigkeiten endeten.  Beispiel: „Zwei Knaben saßen in einem Coupé / der eine hatte Baucheweh / da sagte der andere: Weißte? / an der nächsten Station, da sch….steigste mal aus…“ Genial. Die Pointe des Refrains gab dann allen den Rest: „Freut euch des Lebens / Großmutter wird mit der Sense rasiert / aber vergebens / sie war nicht eingeschmiert.“

Der Strickclub war eine heftige Geschichte: Nach Michis und meiner Einschätzung gleichberechtigt angeführt von unseren beiden Omas, traf sich regelmäßig eine Horde patenter Damen, um bei Kaffee und Kurzen die Bude abzureißen, und auf jeden Fall nicht zu stricken. Das waren lautstarke Nachmittage in dubiosem Rausch, noch heute hallt das raue Lachen von Frau Lauf in meinen Ohren nach, und die furiosen verbalen Schlagabtäusche zwischen Ordenschwester Herwiges und Marianne, die sich stets freestylemäßig aus möglichst frivolen Kontexten entwickelten, bis sie unweigerlich in lautstärksten Gackereien der ganzen Runde explodierten, hätten dezibeltechnisch die angeblich lauteste Heavy Metalband Manowar locker in die zweite Reihe verwiesen, hätte da mal jemand nachgemessen.

Wolle oder Stricknadeln haben wir da nie entdeckt.

Gestrickt wurde aber wohl an allen anderen Tagen der Woche, denn meine Pulloverkollektion wuchs rasant, und deren Prunkstück wurde ein echter Nachbau des TKKG-Pullovers mit dem großen Tarzan-T vorne drauf.

„Was für ein Glück, dass ich Torsten heiße, und nicht zum Beispiel Michi, denn dann wär ich jetzt initialenmäßig in Sachen TKKG Pulli ja wohl voll angeschissen.“, ätzte ich ein klein wenig gehässig, aber Michi war eh komplett desinteressiert an einem solchen Textil. Er war, was Hörspiele anging, schon längst zu „Larry Brent“ gewechselt. Kulturell war er mir halt immer einen Schritt voraus. Oder ich hing einfach hinterher, kann auch sein.

Ich nämlich trug jenen Pulli weiterhin stolz durch die Welt, und zwar genau bis zu jenem Tag, an dem ich ihn erstmals auch zur Schule anzog. Danach war er Geschichte, und zwar eine Geschichte, die mir noch eine ganze Weile nachhängen sollte.

Kinder können grausam sein, und ohne Judo ist das schwer zu managen.

Vielleicht hatten Michi und ich genau deswegen zwischenzeitlich sogar einen Judoclub gegründet, der die kindischen Winnetougames ablöste. Hier schubsten wir uns äußerst professionell hin und her, traten aneinander gefährlich vorbei, und versuchten uns gegenseitig über die Schultern zu wuchten, bevor wir irgendwie ab-,  rum- und schlussendlich auf der Auslegware ausrollten. In den Pausen gabs selbst angerührten Zitronentee und Knäckebrot mit Schinken. Ziemlich gute Sache eigentlich, aber dann knallte eben die Breakdancemusik in unsere Leben, und gierig zuzzelten wir alle Infos, die wir über dieses Phänomen kriegen konnten, aus der ganzen Welt. Also im Endeffekt aus den Infos von der Vorder- und Rückseite der Plattenhülle. Immerhin waren da coole Leute drauf abgebildet, die Tanzmoves vorführten, und dank ihnen hatten wir so zumindest zum Einstieg genug Material.

Von jetzt an schubsten wir einander äußerst professionell hin und her, traten gefährlich aneinander vorbei und versuchten, uns selbst über unsere eigenen Schultern zu wuchten, bevor wir irgendwie ab-, rum- und schlussendlich auf der Auslegeware ausrollten. In den Pausen gab’s selbst angerührten Zitronentee und Knäckebrot mit Schinken.

Wir waren uns beide total einig, dass das unseren Judoclub um Längen schlug.

Im Hintergrund lief die Platte, wobei wir eigentlich immer nur den ersten Song hörten, „(Hey You) the Rocksteady Crew“ von der Rocksteady Crew.

Zur Not akzeptierten wir auch noch „New York, New York Pt.1“ von Grandmaster Flash & the Furious Five, doch der Rest war für uns unmelodischer Schrott.

Genial fanden wir aber noch den Song „Let’s Kratz“ der deutschen Gruppe Reflexx, die sich mysteriöserweise auf die Platte gemogelt hatte, und dessen Refrain lautete: „Meine Platte hat ’nen Kratzer / gehört denn der da hin? / ich höre einmal weiter / das Kratzen macht mich heiter / Kratzen ist mächtig in!“

Fanta Vier: erste Deutschrapkapelle? Pffft, am Arsch.

Leider hatte die Platte an der Stelle des Songs einen fiesen Kratzer, was mal wieder beweist, dass Ironie mitunter viel plakativer daherkommt, als von der Kunst behauptet. Jedenfalls fiel der Song somit leider für unsere Trainingseinheiten aus, aber ehrlich gesagt, dauerten die eh meist nur zwei Durchläufe „(Hey You) the Rocksteady Crew“ an, dann hatten wir unsere Choreos aufgebraucht und nach eigenem kritischen Empfinden sowieso ausreichend perfektioniert, um endlich die nächste Ladung Knäcke mit Schinken zu futtern.

In den künftigen Wochen konnten wir dank Ronnies Popshow unser Repertoire sogar noch erweitern, zum Beispiel durch Wellenbewegungen mit den Armen und Pantomimen hinter imaginären Fensterscheiben. Diese Neuentdeckungen, wie auch unsere klassischen Dancemoves kombinierten wir kunstvoll mit eigenen Versionen von Handstand oder „Engelein flieg“, und schließlich hatten wir ein komplettes Programm von locker vier Minuten zusammen, und waren bereit für den Strickclub. Der Erfolg – wie bereits erwähnt – fulminant und famos. Mindestens zwei begeisterte Schnapsprosteinheiten des gesamten Publikums auf unsere Leistung.

Der Nachteil war, dass hernach die Luft bei uns beiden irgendwie raus war. Kein Wunder, wenn man man erstmal ganz oben angekommen ist, bleibt nur noch der Abstieg. Googelt Falco, dem ging’s später ganz genauso.

Eher lustlos erwartete ich darum Michi an jenem verregnetem Tag zur wöchentlichen Verabredung, und als er aufschlug, wirkte auch er eher genervt, als die ersten Töne der Rocksteady Crew ertönten. Er seufzte theatralisch, griff dann aber in seinen Parka und nestelte was aus den Taschen hervor.

„Hier, wart‘ mal eben mit der Musik.“ sagte er, „lass uns erstmal einen genehmigen.“

Ich hob den Tonarm vom Song, der mir sowieso inzwischen nur noch auf den Zeiger ging, und guckte neugierig.

„Hier, hab ich mitgebracht. Kommt gut.“

Michi hielt triumphierend vier Pralinen in der Hand. Mon Chérie.

Wow, dachte ich, das kommt bestimmt nicht gut.

„Hab ich auch schon mal zuhause gegessen, ich kenn‘ die.“ sagte er und zwirbelte ein Mon Chérie aus der Packung.

Ich war ziemlich uneins. Erstens: Alkohol war ja schon so eine Sache. TKKG rieten davon ab. Und dann sogar Schnaps? In Schokolade? Verruchter Scheiß. Da brauchte es gar kein „Zweitens“ mehr, da war ich definitiv nicht dabei.

Michi kaute inzwischen genussvoll und mümmelte: „Ich hab mir zwar gedacht: Nee, für den Torsten ist das wahrscheinlich nix, aber vielleicht…“

„Häh?“ unterbrach ich ihn erbost. „Total ist das was für mich! Wieso soll das denn nix für mich sein?“

Ich schnappte mir ein Mon Chérie, pellte es frei und warf es waghalsig in den Schlund, bevor ich’s mir noch anders überlegen konnte. Hm. Na ja. Tja. Puh, das schmeckte aber ganz schön scheiße.

„Astrein!“ krächzte ich und nickte anerkennend. Jetzt brannte das aber ziemlich im Hals. Aber irgendwie auch betäubend. Mehr Schokolade wäre besser gewesen, klar, und diese Kirsche war ja wohl das Letzte, aber das flüssige Feuer kam eigentlich wirklich gut. Jetzt dämmerte mir auch plötzlich, was Winnetou immer mit Feuerwasser gemeint hatte. Geniale Umschreibung, das musste der Neid ihm lassen. Kapierte ich ja jetzt erst! Schnaps machte wohl auch schlau.

„Aber die Kirsche ist kacke, find‘ ich.“ befand ich.

„Die Kirsche ist das Beste.“ schwärmte Michi, „Piermont.“

„Ja, ja, Piermont mein‘ Penis!“ argumentierte ich.

„Idiot.“ parierte er.

So ging’s eine Weile zwischen „Vollarsch.“ und „selber“ hin und her, wer aber den Disput letztlich gewann, ist leider meinem Gedächtnis entfleucht.

Ich schluckte den Rest Schokomatsch runter. „Die anderen beiden heben wir uns aber noch für nach dem Training auf, ne?“

„Klaro.“ sagte Michi. Dann verputzten wir die beiden anderen. Das Training fiel indes aus. Statt dessen glucksten wir übertrieben albern rum, tobten durchs Zimmer und mixten unsere Judokenntnisse spontan mit Apachengeheul, bevor wir uns fast wieder Blutsbrüderschaft geschworen hätten, doch irgendwas kam kurz davor natürlich dazwischen.

Schön bündig für die Erzählung wäre ja gewesen, hätten wir an jenem Nachmittag gleich zu den Pralinen zum ersten Mal eine Platte von Slime oder den Ramones aufgelegt, eine Platte, die wir uns heimlich von unseren älteren Geschwistern „geborgt“ hätten, um so nahtlos vom unschuldig-kindlichen Musikgenuss in die rebellische Flut der Rockadoleszenz einzutauchen.

War aber nicht so. Vielleicht mangels älterer Geschwister.

Statt dessen endete der Tag unspektakulär wie immer, Michi ging heim, ich blieb daheim, und mit unseren Breakdancemeetings war es auch vorbei. Wir fanden andere Themen für unsere Treffen, doch bis zu unseren wirklich echten, oft punkmusikbegünstigten Alkoholeskapaden, dauerte es noch ein paar Jahre. Dennoch waren diese zwei Mon Chérie mein erster Erwachsenenalkohol. Dessen Genuss war nicht, wie beim schaumweingetränkten Sektkorken zu Silvester oder dem ersten erlaubten Viertelglas Orange/Deinhardt zu Opas rundem Geburtstag, das Ergebnis einer offiziellen elterlichen Ausnahmegenehmigung, sondern ausschließlich die selbstbestimmte Folge von Neugier, Zweifel und Gruppendruck. Einfach toll.

Michi feiert heute, am 20.01., seinen Geburtstag. Leider ist er nicht mehr hier, seit fast zehn Jahren nicht mehr. Ich weiß inzwischen genau, dass sich diese Lücke nicht mehr schließen wird. Zum Glück tut sie’s nicht, denn sie beweist, was war.

Was bleibt, ist viel Dank. Und ein ganzer Apachenstamm an Erinnerungen, der ständig aufs Neue unermüdlich in meinen Kopf und mein Herz krabbelt. Dazu braucht’s nicht viel. Manchmal reicht sogar eine öde Behauptung eines Kabel Eins-Kochs, während man Tetris spielt. „Schokolade und Schnaps geht immer?“

Na, von mir aus.

Jedenfalls: Hey, Michi. Auf dich heut‘ ein Mon Chérie, bon Ami. Ich vermiss‘ dich. Trotzdem bleib ich dabei: Die Kirsche ist das Letzte.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 20. Januar 2022 veröffentlicht.

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