August: Wiedersehen mit El Hefe

„Sorry, are Mushrooms in there?“

Ich schrecke aus meinen Gedanken und blicke hoch. Vor mir steht El Hefe und zeigt fragend auf gefüllte Teigtaschen. Wir beide befinden uns im Cateringzelt des Taubertal-Festivals, es ist um die Mittagzeit und ich werde in einer halben Stunde die große Bühne mit meiner Band eröffnen. Darum war ich gerade tief und ausschließlich in Überlegungen versunken, ob mir Pommes vielleicht zu schwer im Magen liegen oder ob sie nicht sogar eine kluge Wahl wären, weil sie den Alkohol der gestrigen Nacht bestimmt besser aufsaugen können als ein Kopfsalat. Die Situation, den beeindruckenden Gitarristen von NOFX nun über Inhaltsstoffe der Pasta aufzuklären, hatte ich eher nicht eingeplant. Dennoch fühle ich mich ein wenig gebauchpinselt, dass er mir jetzt so kumpelmäßig sein Vertrauen schenkt, drum antworte ich wie aus der Pistole geschossen souverän in bestem Englisch: „…no … Mushrooms are not in them….“ und grinse ihn breit an, während ich inständig zu Fraugott bete, dass auch wirklich keine Pilze in dem Zeug stecken,denn vielleicht ist er ja allergisch drauf. Gleichzeitig frage ich mich aber, warum er überhaupt mich danach gefragt hat. Mit einem Mitglied des Cateringteams kann er mich eigentlich nicht verwechselt haben, dazu trage ich ja meinen Künstlerausweis viel zu stolz für alle sichtbar um den Hals, und besondere Kulinarik-Kompetenz habe ich sicher auch nicht ausgestrahlt, wie ich da so mit herabhängendem Speichelfaden weltentrückt ewig vor den Pommes stand. El Hefe ist schon längst vom Buffet verschwunden, als es mir plötzlich klar wir: Natürlich! Er hat mich wieder erkannt!

Ich erinnere mich: Vor etwa 16 Jahren sind wir uns nämlich schon einmal begegnet. In Bonn. Damals war ich frischer Zivildienstleistender und NOFX hatten unlängst ihr Album „Punk in Drublic“ veröffentlicht, anlässlich dessen großen Erfolgs sie auch in unserem eher altbacken-unaufgeklärt-dörflichen Punkfreundeskreis plötzlich einen enormen Popularitätsschub erhalten hatten. Sie spielten auf der Rheinkultur, dem größten „Umsonst und draußen“-Festival Deutschlands, zur besten Nachmittagszeit, und das wollten wir uns nicht entgehen lassen.

Um ganz ehrlich zu sein, wir wären sowieso da gewesen, denn wenn Rheinkultur stattfand, ging man hin, völlig egal, wer da spielte. Wie gesagt, der Eintritt war frei und damals sogar noch erlaubt, sich selbst mit Getränken zu versorgen. Ein Konzept, dass wirtschaftlich vielleicht nicht das klügste ist, sich aber sehr dazu eignet, einen ansehnlichen Haufen taschengeldknapper Kiddipunks und echter Szene-Hardcore-Senioren halbwegs friedlich zu vereinen. Die härteren Bands spielten auf der roten Alternativestage, nachdem sich das traditionelle Alternative-Zelt der frühen Jahre wahrscheinlich als für den Sommer doch etwas zu kreislauffeindlich für toxisch experimentierfreudige Teenager herausgestellt hatte. Jedenfalls hing ich mit meinen Freunden Eckhard und Hendrik seit den frühen Mittagsstunden vor der Bühne ab, wir hatten aber als Teil der Punkband „Fehlverhalten“ selber bereits knapp anderthalb Gigs auf dem Buckel und nahmen als derart alte Hasen das Konzertgeschehen um diese Uhrzeit eher abschätzig angeödet als Hintergrundmusik wahr. Viel interessanter waren für uns die drei Paletten „Hansa-Export“-Dosen, die wir größenwahnsinnig vorab im Supermarkt eingekauft hatten, um den Tag zu überstehen. Für viele benachbarte Kleingruppen waren diese Dosen ebenfalls sehr aufregend, und wir darum dauerhaft damit beschäftigt, vorbeischlurfende Skater und kettenrasselnde Asseln auf Schnorrgang abzuwehren, während wir selber fleißig Dosen leerten und langsam bemerkten, dass unsere Augen vielleicht etwas größer als unser tatsächliches Fassungsvermögen gewesen waren. Selbstverständlich war ausgeschlossen, einander das einzugestehen, und genauso ausgeschlossen war auch, irgendwem davon abzugeben. Unsere Blicke wurden also leerer, die Paletten nicht wirklich. Dann kamen nach einer Ewigkeit tatsächlich NOFX auf die Bühne.

„Jetzt geht’s los!“ lallte Eckhard, Hendrik brüllte sofort: „Kill all the white men!“ und beide sprangen auf, während ich erstmal sitzen blieb, weil einer schließlich auf unsere Paletten aufpassen musste und ich sowieso ein paar motorische Probleme hatte. Außerdem kannte ich NOFX eigentlich gar nicht und war in letzter Zeit sowieso viel mehr auf dem Beastie Boys-Trip.

Gitarren erklangen, ein Schlagzeug schepperte los und ich befand mich plötzlich in einem Tornado, aus dessen Staubwirbeln ständig „Converse All Stars“-Schuhe in allen Farben durch die Lüfte traten und schlackernde Gliedmaßen in nietenbesetzten Lederummantelungen eumelten. Die Musik war laut und schnell und gar nicht mal so melodisch wie zum Beispiel die australischen Hard-Ons, die für mich das Punk-Nonplusultra darstellten. Aber egal, zwischendurch stand ich natürlich auch mit schweren Beinen auf und wagte einen neugierigen Blick zur Bühne, sehen konnte ich aber natürlich nichts, denn erstens Staub und zweitens ich. Zur Info: Mein Wachstum endete mit zwölf, und da sah ich aus wie elf.

Nach dem Konzert stolperten Eckhard und Hendrik völlig verausgabt, aber komplett begeistert aus dem gigantischen Menschenknäuel, das sich nur langsam entwirrte. Beide fielen ausgetrocknet über die Dosen her, nahmen lange Züge heißen Bieres und erklärten dann schnappatmend, wir würden jetzt die Paletten schultern und zum Merchandisestand der Heroen marschieren. Dort angekommen, erklärten sie weiter, nun würden wir uns alle T-Shirts kaufen, denn die seien ab sofort Anarchie-Uniform. Na gut, da ein Shirt beige war, war ich einverstanden, und ich begutachtete das frisch gekaufte Textil noch stolz, da sah ich, wie sich die beiden schon durch einen breiteren Spalt zwischen den Absperrungen zum Backstagebereich zwängten. Ich überraschenderweise ohne zu zögern hinterher, denn ich hatte den Mut aus zahllosen Hansadosen in mir. Nun standen wir auf der anderen Seite vor großen Nightlinerbussen. Hier war allerdings überhaupt gar nix los. Keine Menschenseele.

„Und jetzt?“ frug ich, denn eigentlich wollte ich gerne wieder auf die spannendere andere Seite zurück, auch weil mein Mut bereits in der Blase drückte.

„Wir klopfen mal!“ beschied Hendrik und bevor wir das diskutieren konnten, hämmerte Eckhard bereits gegen die nächstbeste Bustüre. Zischend öffnete sich das Ungetüm und ein nicht völlig begeisterter korpulenter Mann mit Sonnenbrille stand da und blickte skeptisch auf drei glasig blickende Burschen, die von einem Bein aufs andere traten. Es war El Hefe.

„Wer isn das?“ dachte ich und zupfte verlegen an meinem neuen NOFX-Shirt.

„Ey NOFX!“ rief Eckhard, der ihn als erster erkannt hatte, und pfiff durch die Zähne, „You are cool!“

„Yes, great Show! Kill all the white men!“ jubelte Hendrik, und ich, weil ich da mithalten wollte, fügte hinzu: „We got your record. It’s echt good!“

El Hefe war selbstverständlich zu schüchtern, um uns zu antworten, kein Wunder, immerhin verbrachte er ja anscheinend sogar lieber seine Freizeit im öden Bus als vor der Bühne bei der Action. Er nickte nur freundlich und rieb gerührt seinen Bart.

„Hey! Come on, we can do a Party!“ fiel es Hendrik ein und rülpste begeistert.

„Yes, because we have got beer!“ Ich schüttelte verführerisch mit einer halbvollen Dose.

El Hefe traute sich allerdings nicht so recht, weshalb wir versuchten, seine Zweifel zu zerstreuen und ihm erklärten, dass wir auch eine Punkband waren, nämlich „Fehlverhalten from Bonn-Oberkassel, not so good as NOFX but cool, too!“ und er sich echt nicht zieren brauchte, weil wir genug Bier für uns alle hätten.

Leider bekamen wir ihn nicht mehr so recht überzeugt, vor allem, weil ein anderer Kerl, wahrscheinlich der Busfahrer, dazwischen kam, der die Situation fehlinterpretierte und uns für irgendwen Dahergelaufenes ohne Gratisbier hielt, und darum intervenierte, es sei nun genug gealbert worden. El Hefe war untröstlich, das war uns klar, aber wir wollten auch nicht, dass er Ärger bekam und fragten nur noch zur Güte, ob er uns denn was unterschreiben wolle, aber als El Hefe in seiner Verwirrung ansetzte, unsere neuen Shirts zu bekrakeln, wurde es uns etwas zu bunt und wir zogen ohne Autogramme ab. Das Shirt trug ich noch eine ganze Weile, bis ich irgendwann im TV den VIVA Mädchenschwarm-VJ Nils Bokelberg damit sah und es darum etwas peinlich berührt in die Altkleidersammlung gab.

Eigentlich schade, denn der Slogan drauf war „Mons-Tour“, und das wäre doch heute, wo ich vor dem Auftritt meiner Band „Monsters of Liedermaching“ auf den guten alten El Hefe wiedertreffe und mit ihm über Nudelrezepte fachsimple, ein toller verbindender Gag für uns beide gewesen.

Unser Auftritt ist übrigens inzwischen lange vorbei und ich schaue mir begeistert NOFX von der Bühnenseite an, so genieße ich sie heute erstmals endlich mal richtig und kann alles gut sehen.

Sie spielen eine fulminante Show, Fat Mike isst Tortilla-Chips, bevor er zu singen beginnt, und die anderen sind auch dufte. El Hefe tanzt grazil über die Kameragleise der Bühne und wirkt allergiefrei fit. Ich atme erleichtert auf, anscheinend waren wirklich keine Pilze im Essen. Ich nehme mir fest vor, mit ihm später noch gemeinsam in unserer Vergangenheit zu schwelgen, doch dazu kommt es nicht mehr. Er ist anscheinend immer noch zu schüchtern. Dafür lerne ich tags drauf beim Rocco del Schlacko-Festival überraschend Fat Mike kennen, weil ich mir dort endlich mal ein neues NOFX-Shirt gekauft habe. Unser Austausch ist nicht ganz so herzlich und auf Augenhöhe, wie der damals mit El Hefe auf der Rheinkultur, aber ich bin überzeugt: Auch er wird sich für immer an mich erinnern.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of LiedermachingDie Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 19. August 2020 veröffentlicht.

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