September 2021: Rolling Stones und Toten Hosen feat. Reiner und Latinum

Ich wollte aufregend groovy in diese Kolumne starten, darum hatte ich „Sing, Sing, Sing“ von Benny Goodman aufgelegt, aber das flutete dermaßen übergroovy meine Sinne, dass ich sogleich aufspringen  und eine große Runde um den Deich joggen musste. Ich konnte gar nicht anders, weder der Regen, noch die hämischen „Hopp, Hopp, Hopp“-Rufe des deichaufschüttenden Bauarbeitertrupps konnten mich bremsen. Energiegeladen ließ ich Industrieanlagen und Eisenbahngleise hinter mir, winkte den Schäfchen zu, die mich unbeeindruckt anstarrten, während sie im Rhythmus kauten, gewann einen kurzen Wettsprint gegen ein nassforsches Eichhörnchen, und kam erst gut zwei Stunden später wieder bei mir zuhause an, vollgeregnet und durchgeschwitzt, aber wenigstens halbwegs glücklich und voller Vorfreude auf etwas kreative Textarbeit.

Jetzt sitze ich vor dem Rechner, ein Kaffee steht neben mir, und wieder spielt Herr Goodman, allerdings habe ich nun einen brutalen Muskelkater, seltsamerweise in den Schultern, auch der Nacken knackt wie eine Knackwurst in Hochbetrieb, meine Gedanken schweifen fortwährend wieder zu den Schäfchen zurück, und Peggy Lee singt passenderweise „Why don‘t You do it right?“. Ein gerechtfertigter Vorwurf, für den ich Peggy aber gar nicht bräuchte, denn den mache ich mir schon ständig selber.

Da ich mich eh nicht konzentrieren kann, blättere ich etwas durch Facebook, was, wie ich finde, etwas gediegener klingt, als wenn ich schreiben würde „Ich scrolle mich durch Facebook“, obschon das natürlich treffender wäre. Aber manchmal muss man sein Leben eben etwas glasieren, und wenn‘s auch nur durch Worte ist. Das wahre Leben ist ja schließlich auch nicht das Wahre.

Auch Facebook vermittelt diesen Eindruck, denn dort wuchert der Wahnsinn längst aus allen Fugen der letzten Vernunft, aber hin und wieder kann man sich zumindest in seiner eigenen Filterblase vor der Bosheit der ganzen Querdenker, Nazis, Klimaschutzhasser und ähnlichen Schlimmmenschen verstecken. Die tun mir übrigens manchmal sogar leid, weil ihnen die Möglichkeit, sich auch mal von sich selbst zu erholen, komplett fehlt. Kein Wunder, dass sie immer blödwütiger werden.  Vielleicht bräuchten sie nur mal soziale Ruheräume, in denen höchstens Peggy Lee aufmunternd singt „Why don‘t You do it right?“, und schon kämen sie von ihrem Hasstrip runter? Ich weiss es nicht, aber ein Versuch wäre es wert.

Eine Nachricht, über die ich gerade gestolpert bin, ist, dass der Rolling Stones- Schlagzeuger Charlie Watts jüngst verstorben ist. Das stimmt mich etwas melancholisch. Ich war nie ein großer Fan der Rolling Stones, aber wenn Legenden sterben, empfindet man die so entstandene Lücke im Zeitgeschehen ja immer etwas unvermittelter und persönlicher als in anderen Fällen.

Eine Verbindung aber habe ich durchaus zu den Stones, und die ist mir immer sehr gut im Gedächtnis geblieben, obschon sie über 30 Jahre zurück liegt.

1990 waren die Rolling Stones auf Europatournee, die Tour hieß „Urban Jungle“, und mein Onkel Reiner hatte mich auf das Konzert in Köln eingeladen, denn er wollte sie wenigstens noch ein  letztes Mal live erleben, bevor sie sich wahrscheinlich auflösen würden, und da die Toten Hosen das Vorprogramm bestreiten würden, war er sich sicher, dass das auch für mich ein aufregendes Erlebnis werden würde. Damit hatte er zwar durchaus recht, was er aber im Vorfeld nicht wissen konnte, war, dass meine Laune zu der Zeit derart tief im Keller war, dass nicht mal eine Haarspitze herauslugte. Grund dafür waren zwei Klassenarbeiten, die ich tags darauf zurückerhalten sollte, und zwar die jeweils letzten Arbeiten in Mathe und Latein, die beide darüber entscheiden würden, ob ich auf dem Zeugnis eine Vier oder eine Fünf bekommen würde. Somit stand meine Versetzung auf äußerst wackeligen Beinen, was schonmal echt scheiße war. Doch damit nicht genug, auch mein großes Latinum drohte sich in Luft aufzulösen, denn selbst wenn ich durch eine Schuljahrwiederholung eine zweite Chance bekäme, wäre ohne Lehrer Krieglers komplette Unfähigkeit zur kompetenten Aufsicht bei Klassenarbeiten jede Möglichkeit auf ein Latinum für mich gestorben.

Kein Wunder also, dass ich wortkarg und mit Gewitterwolken überm Kopf  einen eher ungeselligen Konzertbegleiter abgab, als wir im Auto zum Müngersdorfer Stadion gurkten. Wir waren zu viert, Reiner, seine Freundin, eine Freundin von ihr und ein 16 jähriger Sauertopf, der gerade seine Zukunft im Gully verschwinden sah, ein herrlich augelassenes Gespann also.

Immerhin, als die Toten Hosen begannen, lichteten sich die Wolken über mir ein wenig, die Band war erfreulich krakeelig drauf und gab ordentlich Gas. Jedenfalls nach einigen technischen Anlaufschwierigkeiten zu Beginn, wie mir schien. Doch Reiner erklärte mir, dass das ein Song der Beatles gewesen war, was er anscheinend ziemlich witzig fand, aber der Sinn dahinter erschloss sich mir irgendwie nicht. Beatles und Stones waren ja im Grunde so ziemlich dasselbe, warum also kostbare Zeit mit sowas verschwenden, vor allem, wo die Toten Hosen doch selber so viele bessere und schnellere Lieder hatten. Aber es ging zum Glück qualitativ rasch wieder aufwärts: Campino hängte sich zwischendurch sogar kopfüber von der Bühnentraverse, während er weiter schmucke Vierzeiler plärrte. Das gefiel mir enorm gut. Knackig, rockig, bravourös beendeten die Punkrocker ihr viel zu kurzes Set, und ich war mir sicher, dass das nicht mehr zu toppen war. Prompt zog die Wolkendecke über meinem Kopf wieder zu. Reiner hatte meine Stimmung natürlich längst bemerkt, und da sein Anhang samt Freundin längst an einer Bierbude weilte, nutzte er nun die Umbauzeit auf der Bühne, um die Gründe  meiner Muffeligkeit aus mir rauszukitzeln. Dazu war zugegebenermaßen nicht allzuviel Kitzelei nötig, denn ich konnte noch nie lange mit meinem Privatscheiß hinterm Berg halten. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich schätze, es lief ungefähr so ab:

Reiner: „Sag, mal…“

Ich: „Ach, das ist alles eine Scheiße, und morgen krieg ich Mathe und Latein wieder und der Kriegler sagte schon, die Arbeit ist schlecht und dann bleibichsitzenundkriegtkeinlatinumundwiesollichdasmeinenelternerklärenundscheißeundüberhauptwassollichnurmachenundsoeindreck usw.“

Und Reiner tat das einzig Richtige, was man in dieser Situation machen kann: Er  verzichtete auf jeden „Kopf hoch, wird schon“-Dreck, sondern er erzählte mir einfach lauter Stories, in denen er einst versagt hatte. Geschichten aus der Schule, Geschichten von der Liebe, Geschichten aus seiner Ausbildungszeit. Verpatzte Fahrprüfungen, Verhauene Klausuren, durchgefallene mündliche Tests, verschusselte Arbeiten, undundund. Am laufenden Band. Er erzählte von Abfuhren und Nächten ohne Hoffnung, von Platten, die er nach Mißgeschicken aufgelegt und Briefen, die er nach Trennungen geschrieben hatte. Von Alkoholvergiftungen nach Prüfungshorror und mondbeschienenen Momenten als einsamer Verlierer.

Inzwischen rockten längst die Rolling Stones und zauberten den perfekten Soundtrack dazu.

Ab und an verwies Reiner auf ein Lied, das sie gerade spielten, und packte auch dazu eine passende Anekdote über einen weiteren schulischen oder persönlichen Rückschlag aus. Es war grandios. Plötzlich war ich nicht mehr allein, die Wolkendecke lag nun über uns allen, war darum aber nicht mehr ansatzweise so bedrückend. Sogar die Stones schienen das zu begreifen und ganz mit mir zu sein, auch wenn sie zwischendurch trotzdem dauernd irgendwelche unpassenden fröhlichen überdimensionierten Gummimonster auf der Bühne aufbliesen. Die Musik jedenfalls deckte sich haargenau mit den Bildern aus Reiners Geschichten und gab ihnen zusätzlich einen Rhythmus, der nach vorne wies, und ich konnte endlich völlig befreit das Konzert genießen, den magischen Moment und die hoffnungsreichen Bande des Versagensheroismus, die mich von nun an mit meinem Onkel verbanden. Abgesehen davon war die Musik der Rolling Stones ja eh in etwa genau so wie die der Toten Hosen. Nur langsamer und in englisch. Also ganz dufte.

Und jetzt ist es über 30 Jahre her, und ich denke an diesen Abend, und schicke darum einen kleinen dankbaren Gruß an Charlie Watts. Außerdem denke ich, ich sollte mal meinen Onkel anrufen. Aber der geht eh nicht ran, denn er hat immer soviel zu tun. Wahrscheinlich waren mindestens 80 Prozent seiner Misserfolg-Stories damals völlig frei erfunden, so gut, wie er heute im Business ist. Aber das ist halb so wild, denn die Geschichten waren alle sehr gut, und manchmal reicht das völlig. Sagen wir so: Die Rolling Stones und Niederlage, das ist für mich seitdem untrennbar miteinander verbunden: Eine heldenhafte Hymne über die Süße des Scheiterns. Irgendwie putzig, oder? Schlingensief hätte das sicher gefallen. Hoffe ich zumindest. Was mein Latinum betrifft? Fragt doch Herren Kriegler.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 15. September 2021 veröffentlicht.

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