„Hey Fans, was geht ab?“ rief ich cool in die Runde und sprang vom Rad. Die Runde blieb mir eine Antwort aber schuldig, denn alle hörten gerade konzentriert den Anweisungen unseres Pastors zu. Die Ostermette lag an und wir wurden just unseren Aufgaben zugeteilt.
„Bitte nicht schon wieder Kreuz….“ bat ich still zu Gott.
„Michael, Peter, Frank und Kai: Weihrauch. Torsten und Daniel: Kreuz.“
„Fuck you Gott, fuck off!“ schickte ich ihm stumm hinterher.
Kreuzdienst war scheiße, uncool und anstrengend, weil man immer vor der ganzen Prozession vorlaufen musste und danach anderthalb Stunden blöd rumstand. Weihrauch war der geile Job, man machte Feuer und Qualm, konnte alle naselang zum Altar spazieren, um wieder Rauch zu schwenken und saß ansonsten unbehelligt in einer stillen Ecke, die von den Kirchgängern kaum einzusehen war. Seit Monaten versuchte ich, in die Weihrauchgruppe zu kommen, auch weil mein bester Kumpel Michi längst festes Weihrauchmitglied war. Aber solange Kai nicht abhaute, war die Gruppe voll und ich konnte höchstens mal aushilfsweise einspringen, dann aber nie am Rauchfass, sondern bloß am Weihrauchzutatenschälchen. Und regelmäßig statt dessen ständig: Kreuz.
Weihrauchgruppe war Heavy Metal, Kreuz Christpop.
Wobei ich ehrlich zugeben muss, dass mir diese Formen der subkulturellen Musikschubladen erst in den Folgejahren ins Bewusstsein torkeln würden, denn noch war ich elf Jahre alt, NENA das heftigste, Kiz eine mittelprächtige One Hit Wonder-Jodelmaschine und „tote Hose“ in der öffentlichen Wahrnehmung vornehmlich eine wirklich fresh-freche Langeweileumschreibung.
Ich bezweifle auch, dass ich wirklich „Fuck you Gott, fuck off!“ gedacht habe, wahrscheinlich eher: „blöde Sau“ oder sowas, aber sauer war ich wirklich.
Etwa drei Jahre später hatte sich zum Glück einiges geändert, denn natürlich verließen eine Menge Leute unseren Messdienerclan, weil Fußball, Bier und Mofafahren wichtiger wurden und Gott insgesamt auch langsam ein Coolnessproblem bekam und wahrscheinlich waren auch Bruce & Bongo mit ihrem Hit „Geil“ irgendwie daran schuld, jedenfalls wurden sie für allerhand verantwortlich gemacht, und ich schätze, der Messienerschwund in Dollendorf gehörte auch dazu.
Mir gefiel der Song, ich hörte ihn aber nur heimlich, weil meine Mutter wenig begeistert davon war, aber als Lehrerin solche Meinungsverschiedenheiten stets auch argumentativ ausdiskutieren wollte, mir aber mit meiner Mutter ein Wortgefecht über die Herkunft des Geilheitsbegriffs zu liefern einfach zu unangenehm war. Also eben heimlich, weil mein jüngerer Bruder aber natürlich oft zusammen mit mir den Song hörte und ich deshalb fürchtete, dass er irgendwann unbesonnen den Refrain womöglich am Abendbrottisch trällern würde, behauptete ich, dass diese spezielle Version des Songs „GAL“ hieß, was sich von „egal“ herleitete. Genialer Schachzug! Als ob das einen Unterschied gemacht hätte, ob er jetzt „gal“ oder „geil“ im Rhythmus stotterte. Andererseits war Abendessen inzwischen sowieso meist von blöden Streitereien begleitet, denn die ersten Kleckse Punkrock hatten sich auf mein graues Gemüt gelegt, was in mir langsam aber unaufhaltsam neue wüterische Energien freitupfte.
Das alles änderte übrigens nichts daran, dass ich auch weiterhin Messdiener blieb, denn Kai hatte inzwischen endlich den Dienst quittiert und ich wurde rechtmäßiger Nachfolger im Team „Weihrauch“. Jetzt war das Quartett perfekt, wir weihräucherten uns lässig durch die Jahre und das stand ideologisch überhaupt nicht im Widerspruch zu meinen weiter wachsenden Punkattitüden, denn ich war schließlich auch Fan von Brimborium und Fantasy und stellte mir regelmäßig während der langen Messenächte vor, wie plötzlich eine Vampirarmee übers Dorf herfallen würde und wir als letzte Überlebende aus der Kirche heraus die verdammten Blutsauger bekämpfen würden. Manchmal waren es auch Werwölfe oder Rocker, die uns heimsuchten. Einmal handelte es sich sogar um einen plötzlichen Einsturz der Kirche in ein unterirdisches Wasserrohrlabyrinth, ich glaube, ich hatte gerade den „Untergang der Poseidon“ gesehen, vielleicht auch „Nightmare“, egal, jedenfalls schrieb ich im Kopf Drehbücher, gegen die „Dawn of the Dead“ oder „From Dusk till Dawn“ völlig abstanken. Den Soundtrack lieferte die schwere Kirchenorgel, manchmal bekam der Score dank des eher schwachbrüstigen Chors etwas dadaistisches, jedenfalls war ich immer der Held, der alle aus der Scheiße rausholte, natürlich war Michi mein fast ebenbürtiger Sidekick, und wir behielten unsere Messdienergewänder an, weil die groovy waren.
Befand ich mich in diesen Traumzuständen, muss ich wohl einen sehr weltentrückten Blick gehabt haben, denn meine Eltern und auch andere Kirchgänger sagten oft, ich sähe beim Messdienst stets aus, als würde ich innerlich inbrünstig „pausenlos ein Ave Maria nach dem anderen runterbeten“.
Gott und Kirche interessierten mich eigentlich nicht, aber Weihrauch und Horrorstories fand ich klasse, und so blieb ich mit dem gesamten Team „Weihrauch“ bis zum 18ten Geburtstag Messdiener. Wahrscheinlich absoluter Rekord. Am besten waren Beerdigungen, nicht aus mangelnder Empathie, sondern weil man da immer auch vor die Tür an die Frischluft kam. Taufen nervten, bei Hochzeiten gab’s immerhin manchmal Trinkgeld. In der Zwischenzeit entstanden natürlich durchaus auch erste Diskussionen mit diversen meiner eher punkaffinen Freunde, Begriffe wie ,„reaktionär“ und „weltfremd“ aber auch „bigott“ und „Opium fürs Volk“ häuften sich zunehmend, je mehr Platten von „Slime“, „Urlaub im Rollstuhl“, „DRI“ und „Emils“ die eher unkritisch freudigen Kollegen der „Frohlix“ oder „Hannen Alks“ vedrängten, aber das hatte auf mich den absolut keinen Einfluss: „Opium fürs Volk, Opium fürs Volk!“ äffte ich die Vorwurfsmeute nach, und ergänzte völlig sinnfrei, aber effektiv: „Wir kriegen ja kaum mal Haschisch organisiert.“
Anstatt also nach dem altersbedingen Ausstieg der Kirche komplett den Rücken zu kehren, begann ich in meiner Gemeinde als Lektor anzuheuern, um weiterhin etwas Orgelmusik zu tanken. Lektor sein bedeutete, dass ich Lesungen und Fürbitten bei Sonntagsgottesdiensten hielt und mit dem Pfarrer den Leib Christi verteilte. Der Leib Christi, oder die „Hostie“, ist eine Esspapieroblate und schmeckt wahnsinnig gut, aber jeder darf nur eine haben. Du nimmst also den Goldkelch mit den Oblaten, schreitest heilig schauend (Zombieapokalypse oder Alienangriff, ich rette alle) die Treppen vom Altar runter und fütterst das Kirchenvolk, das in Zweierreihen vor Dir ansteht. Du sagst: „Der Leib Christi!“ und hältst den Keks wichtig in die Luft, Kirchgänger sagt: „Amen“, dann kriegt er oder sie den begehrten holy Snack. Wahnsinnig schöne Sache. Zusätzlich gewann es noch an Reiz, als ich bemerkte, wie irritiert bis erschrocken viele der Anstehenden reagierten, nachdem sie der Nietenarmbänder gewahr wurden, die genau das Gelenk panzerten, dessen Hand ihre begehrte Gottesteigware vor ihnen gen Himmel hielt. Sagen durften sie deswegen natürlich nichts, außer „Amen“, schließlich wollten ja alle jetzt den Leib und später in den Himmel, also mussten sie da durch, die Klappe halten und folgsam das Maul aufmachen: Die Hand, die sie fütterte, formte einen fröhlichen Teufelsgruß. Es war traumhaft: Die revoltenfreudigen Anarchiepunks in meinem privaten Umfeld drehten durch, sobald ich meine Lektorentätigkeit erwähnte, die gottesdienstlichen Sonntagsgäste zuckten furchtsam und angeekelt zurück, legte ich ihnen heilige Häppchen in die Hände. Provokation in alle Richtungen, Strike für einen boshaften Adoleszenten, der für Tattoos und Iro zu feige war. Ich experimentierte in der Folgezeit in beide Richtungen weiter: Hier mit Bibelzitaten und Tischgebeten am Tresen, dort mit Schweißbändern mit zerschmetterten Hakenkreuzen drauf, Anarchiezeichen, Stacheldraht und Motörhead- und Judas Priest-Lederarmbändern (ausgeliehen). Auch ein umgedrehtes Kreuz war mal dabei, aber das erwies sich als Quatsch, denn weil ich den Arm beim Verteilen in die Luft hielt, war das Kreuz ja wieder richtig rum, und überhaupt: Schon wieder Dienst am Kreuz. Nix für mich.
Irgendwann hatte sich aber auch dieser Reiz erledigt, und um ganz ehrlich zu sein: Die Provokation nutzte sich, wie jede Provokation, auf Dauer ab. Nicht mal mehr die furchtsamste Renterin schrak vor den Alice Cooper- Buttons zurück, sondern gähnte nur „Amen!“ und streckte oblatengeil die Zunge vor. Auch die Freunde riefen nur noch „Amen“ und hatten schnell viel bessere Bibelzitate drauf als ich, denn ich war ja nicht nur ungläubig, sondern auch faul. Außerdem wohnte ich inzwischen längst in Köln und mir wurde es etwas mühsam, extra zum Sonntagmorgen anzureisen, um eine Dreiviertelstunde Gruselfilme zu fantasieren. Somit endete meine Kirchenkarriere. Meine Punkkarriere sollte indes erst losgehen, und zwar 2021 oder kurz danach. Ich freu mich jetzt schon drauf. Amen und Geil.
Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.
facebook:
www.facebook.com/derflottetotte
instagram:
www.instagram.com/der_flotte_totte
0 Kommentare