November 2021: Nur 48 Minuten

Also, ich habe jetzt noch exakt 48 Minuten für diese Kolumne. So schnell kann ein Monat schrumpfen. Zuletzt hatte ich noch 24 Stunden und nichts auf dem Rechner. Ein lieber Besuch hatte sich unlängst als Übernachtungsgast bei mir angekündigt, und den wollte ich fürstlich bewirten, und zwar in einem glänzenden Palast der Freude. Da ich aber nur einen Verschlag des Verfalls bewohne, habe ich sicherheitshalber sogar zwölf Stunden zur kompetenten Aufpolierung desselben eingeplant, womit ich zum Glück noch ausreichend Zeit für etwas Netflix und acht Stunden Schlaf haben sollte, bevor ich dann wirklich mit der Kolumne loslegen müsste, um alles zeitlich zu meistern. Kein Ding. Blöd nur, dass ich mich im Tag vertan hatte, und der liebe Besuch schon heute aufschlägt.

Es handelt sich um einen Kollegen aus vergangenen Tagen, als wir im Krankenhaus Nachtdienste schoben. Dufte Zeiten voller Rock‘nRoll, viel mehr Rock‘n‘ Roll als heutzutage auf Tour, denn erstens lief auf allen Stationen laute Radiomusik, zweitens gab es die besseren Drogen und drittens machten wir die Nächte wirklich durch. Auf Tour liegt man ja inzwischen fast immer schon zur Geisterstunde im Bett, oftmals sogar nüchtern. Im Krankenhaus gab es nur den einen Nachteil, dass man nicht alleine war, sondern dort auch noch Patienten pennten, die hin- und wieder unangenehme Dienste einforderten. Da waren viel Blut, Tränen und andere Flüssigkeiten im Spiel, manchmal hätte man glatt denken können, in der Mötley Crüe-Biographie zu hausen.

An den Drogen war blöd, dass auch die nur für die Patienten bestimmt waren, und hier gendere ich bewusst nicht, denn nachts klingelten eigentlich immer nur wehleidige Männer. Also auch diesbezüglich alles sehr mötleycrüeig. Aber wir Nachtdienstler haben eigentlich trotzdem permanent derbe die ganze Action abgefeiert und allen härtesten Bedingungen laut rockend getrotzt, genauso wie die Köche in den Büchern von Anthony Bourdain, denn für uns war alles stets bloß ein zynischer Spaß, über den wir uns Nacht für Nacht zotig grölend ausschütteten, während wir Bettpfannen leerten und Infusionen befüllten.

Ich schwöre, genauso war es, ich schwöre aber lieber keinen Eid drauf, denn ich kenne mich zu gut, und weiß darum, dass ich öfters extrem flunkere. Noch 31:11 Minuten.

Ich muss mich sehr sputen, denn ich habe weder Lebensmittel, noch sauberes Geschirr hier, die Wäsche wollte ich eigentlich auch noch waschen, um das Bett für den Besuch frisch zu beziehen, und jetzt scheiterte ich gerade daran, in meine Hosen zu passen. Ich befinde mich gerade in einer kurzen Konzerttourpause, und weil auf den Touren immer nur noch ganz unrockmäßig gegessen und geschlafen wird, ohne sich je zu verausgaben, bin ich zur Kugel gewachsen.

Dass die Hose just nur zu eng ist, weil ich den obersten Knopf zun öffnen vergaß, tröstet so kurz, wie wenig, denn ich muss rasch los, mit dem Wäschesack auf den Schultern durch den Flur, wobei ich gleichzeitig versuche, mittels Wäschesack im Vorbeigehn Staub und Spinnenweben von den Regalen zu fegen, dann zur Waschmaschine und durchgeatmet. Aber nur einmal, denn jetzt heißt es, das Leergut loszuwerden, viel Pfandgut darunter, von dem ich mir eigentlich mal ein Segelboot kaufen wollte, aber jetzt habe ich keine Zeit zum Sortieren, drum alles raus aus dem Küchenfenster, aber keine Bange, zwar wohne ich im vierten Stock, aber da ich mit dem Leergut schon seit Jahren so verfahre, liegt es inzwischen ebenerdig zu meinen Fenstern und kann niemanden auf der Straße drunten gefährlich werden, jedenfalls so lange nicht, bis der ganze Berg eines Tages insgesamt abrutschen wird.

Ich hoffe aber, bis dahin längst aufgrund meines anhaltenden Erfolgs weit weg von den Armen des Gesetzes in einer kleinen Villa auf einer Insel zu wohnen, die nur mit meinem Segelboot erreichbar ist, das ich mir vom Pfand ge-… oha, ich bemerke gerade meinen Fehler.

Egal, keine Zeit, das Geschirr muss gespült werden, irgendwas auftischen will ich ja auch. Ich habe aber nur noch 15:30 Minuten, also ab zum Kühlschrank und mal schauen: drei alte rote Paprika, ein veganer Brotaufstrich, inzwischen immerhin ansprechend grün, anstatt langweilig beige, eine Dose Bohnen und Tomatenmark neben einer übriggebliebenen Käserinde in einer Ja-Schachtel.

Das ist doch gar nicht so übel, daraus koche ich einen Punkrock-Auflauf, genau so, wie wir ihn oftmals damals, ganz zu Anfang unserer Konzertreisen in WG-Küchen bekamen, und ehrlich gesagt, waren die nicht selten viel leckerer, als die meisten komplett neutralen Currys, die uns freundliche, aber ängstliche Köch*innen heutzutage servieren, voller Furcht, unsere zarten Hälse könnten durch etwas Geschmack ihre Singsangstimmen verlieren. Bei Bourdain hießen die beiden wichtigsten Zutaten nicht umsonst Sex Pistols und Wagemut, und das galt auch für unsere Infusionen damals, die wir mit Heldenmut und Augenmaß stets perfekt patientengerecht portionierten. In meinem Kopf läuft gerade allerdings weniger Sex Pistols-Musik, sondern eher die Melodie der Benny Hill Show, während ich von Kühlschrank zu Waschbecken zu Herdplatten hechte, dann ins Schlafzimmer sprinte, um das Bett zu beziehen, dann wieder zurück und dabei überall dreckiges Geschirr, liegengebliebenen Kleinmüll und tote Haustiere aufsammele, bis alle Räumlichkeiten glänzen und die Wohnung einen gesunden Lebenswandel vortäuscht.

07:35 Minuten. Der Kochtopf blubbert harmlos gemütlich, das Geschirr glänzt und die Wohnung funkelt. Es klingelt. In den 54 Sekunden, die man hier für die Treppen benötigt, dusche ich noch rasch und cleane hernach penibel das Badezimmer, bis man sogar aus der Schüssel essen könnte, aber das werden wir wahrscheinlich heute nichtmal aus Nachtdienst-Nostalgie machen wollen, für manche Späße wird man doch irgendwann zu erwachsen. Ping, Der Countdown ist abgelaufen.

Frisch geduscht empfange ich meinen lieben Kollegen zeitlich bestens abgestimmt an der Wohnungstür, und wir schließen uns freudig in die Arme. Wir haben uns viel zu erzählen, denn lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Die Nähe ist gleich wieder da, die Themen sind‘s ebenfalls. Wenn man nicht nur Rock‘n‘ Roll macht, sind die Themen schon weiter gefächert und bunter blühend, ich merk‘ das immer wieder. Mein alter Freund wirkt leider etwas gehetzt.

Wir setzen uns in die Küche und ich zeige ihm meine hier niedergeschriebenen Erinnerungen an unseren Job. Er nickt und sagt, exakt so sei es gewesen, höchstens vielleicht doch auch eher nicht. Dann schwelgen wir ein wenig und lachen uns an. Leider winkt er bezüglich Übernachtung ab, auch das geplante Festmahl, das lecker im Kessel köchelt, schlägt er bedauernd aus. Er hat leider kaum Zeit, da er gleich weiter reisen muss, spontan, wegen überraschender anderer Verpflichtungen. Es reicht nur zu einer kurzen Stippvisite. Also doch nur ein fixer Kaffee und ein rasanter Talk im Kampf gegen die Uhr. Genau wie früher. Die Stoppuhr läuft also ein weiteres Mal. Doch Stoppuhren laufen schließlich überall und für jeden. Immer wieder dräut die Null. Lifestyle im Schnelldurchlauf, aber man kann alles schaffen, wenn man nur will. Na ja, alles wohl eher nicht. Aber passt schon viel rein, in so ein Portiönchen Zeit. Das findet mein alter Freund auch, und steht jetzt auf. Die letzten Sekunden. Meine Wohnung sei schön, meint er beim Hinausgehen. Wir umarmen uns nochmal. Aber aufräumen solle ich mal, sagt er noch. Die Tür schließt sich. Der Vorhang fällt. 3,2,1. Jetzt einen Schlussapplaus bitte.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 16. November 2021 veröffentlicht.

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