November 2020: Crash from Chaos

Heute kann ich keinerlei Stringenz bieten. Alles ist durcheinander und Konfusion wabert durch die kalten Räume der Dachwohnung. Ich wollte ursprünglich früh aufstehen, eine beeindruckende Menge Kilometer zusammenjoggen und anschließend frisch geduscht bei dampfender Kaffeeschale eine wunderbar aufgeräumte Kolumne kreieren, die nostalgisch um mein Leben mit Vinyl und Demokassetten tänzelt. Statt dessen habe ich den Wecker im Halbschlaf dreimal neu gestellt, bin aber doch  spätmittags durch eine Heißhungerattacke von alleine aufgewacht, habe mir sofort abwechselnd Oreoschokoladebrocken und Mühlenhof-Veggiefrikadellchen in den Schlund gestopft – natürlich im Bett, weil ich immer Oreoschokolade und Veggiefrikadellchen greifbar in Bettnähe verwahre – und musste dann erstmal fresskomatös erschöpft ein bisschen ausdösen.  Auch jetzt liege ich noch hier, tippe liegend und mein Mund ist komplett schokoverschmiert, weil Frikadellchen bekanntlich kaum Schmierpotenzial besitzen.

In einer solchen Verfassung tänzelt natürlich kein Satzgefüge rhythmisch elegant, da purzeln Gedanken und Worthülsen so hilflos durch die gesamte Auslegeware im Hirn wie Captain Kirk und Co über die Brücke, wenn die Enterprise von Weltallturbulenzen durchgerüttelt wird. Erschwerend läuft zudem im Hintergrund ein Podcast, in dem ein Mensch einem anderen Menschen irgendwas von Gangstarap in Coronazeiten erzählt, und ich muss aufpassen, dass ich das nicht unbewusst thematisch hier integriere, du Lauch.

Jetzt klingelt auch noch der Wecker, 13:01 Uhr, Zeit, die Kolumne zu beenden, um sie zur Deadline pünktlich abschicken zu können. Ich stell‘ ihn noch ein letztes Mal vor. Mal schauen, wo ich hier im Text um 13: 41 Uhr stecke. Aber egal wo, dann ist die Kolumne zuende.

Ich wollte etwas über Vinyl schreiben, weil ich just ein neues Album aufgenommen habe, das in den nächsten Tagen aus dem Presswerk kommen soll. Ich freue mich darauf sehr, denn es ist ein sehr gutes Album geworden. Sehr retro, die Musik angelehnt an den Poppunk der besseren NDW-Bands, ein Bandalbum mit zwei guten Freunden und brillanten Musikern. Besonders schön an der Sache ist, dass wir uns das Vinyl-Format „10 inch“ gegönnt haben, eine Vinylzwischengröße sozusagen, zwischen den bekannteren Formaten der herkömmlichen Single (7 inch) und LP (12 inch). Zu nerdy? Opfer.

Die erste 10inch-Vinyl, die ich zu sehen bekam, war „Ab 18“von den Ärzten. Eine heiße Scheibe, ein dolles Ding. Sieben Lieder voller Gefahr auf einer schmucken Mediumplatte, ich war sofort Fan  des Formats. Die Lieder waren auch gut, schon klar. Aber auf einer normal großen Platte hätten sie mich nur halb so sehr begeistert. Das Auge hört mit. Meine zweite 10incher kam dann von den „Megavier“, einem Crossoverprojekt der Fantastischen Vier mit den Megalomaniacs, und zwar auf blauen Vinyl. Sehr edel. Zwar waren die Lieder komplett unhörbar ungroovy, aber das störte mich nicht, denn ab und an zählt Form eben doch mehr als Inhalt. Apropos, wenn ich’s so betrachte, eine Frage in die Runde: Gibt’s das neue Ärzte-Album „Hell“ auch auf 10inch? Das könnte vielleicht was retten.

Oha, es ist inzwischen 13:32 Uhr, im Hintergrund-Podcast geht’s um Rapbeef und ich fürchte, das hat sich auf meine letzten Ausführungen ausgewirkt. Schluss mit der chronologischen Aufzählung meiner 10inch-Erfahrungen. Ich nehm‘ auch ansonsten alles zurück und hab Euch lieb. Besonders lieb habe ich aber weiterhin 10 inch-Vinyl, vor allem, weil da nicht ganz soviel Musik drauf passt. Gut, ich lenke ein, Langspielplatten sind schon noch okay, zumal man eine Zwangspause zum Seitenumdrehen einlegen muss. Aber CDs sind horrible. Rund 75 Minuten Musik,  die theoretisch pausenfrei durchorgelt, das geht auf keine Kuhhaut.

So sollte man zumindest meinen, aber oft schauen Menschen nur auf Quantität. Sie wollen möglichst viel für möglichst wenig Geld. „Schnäppchen machen“ gilt als geil, dabei macht doch eigentlich gerade rares Maß so vieles wertvoll. Ein alter Freund aus Skaterzeiten, Marc, brachte damals eine Mini-LP der „UK Subs“ mit zur Halfpipe. Ich schreibe „aus Skaterzeiten“, weil mich das womöglich etwas cooler erscheinen lässt. Die Mini-LP hieß „Motivator“. Neugierig griff ich sie mir gleich und zählte natürlich zuerst die Songs.

„Häh? Nur fünf Lieder?“ frug ich herablassend, denn das war ja bloß was für’n hohlen Zahn.

„Zum Probieren perfekt.“ erwiderte Marc achselzuckend und kurvte lässig mit dem Skateboard davon. Der Wecker klingelt. Ich habe ihn nochmal umgestellt. Er steht jetzt am Kamin. Haha, dufter Gag. Na ja. Er wird jedenfalls um 14:01 Uhr ein letztes Mal läuten, dann höre ich auch wirklich mit der Kolumne auf, versprochen. Aber jetzt wäre es ungünstig gewesen, denn ich will unbedingt noch erzählen, dass mir Marc die Platte auslieh, ich sie zuhause hörte und vollkommen hingerissen war, weshalb ich kurz darauf ein abendfüllendes Album der UK Subs kaufte und rasch merkte, dass fünf Lieder der UK Subs mir absolut ausreichten, denn beim sechsten kam bereits die Übersättigung.  Das gilt natürlich nur für mich, andere können sich alle UK Subs-Alben hintereinander reinziehen und wollen immer noch mehr. Wieder andere feierten damals die Megavier oder freuen sich heute, wenn die Ärzte zum drölften Mal nach der Punkfrage forschen. Die meisten haben sowieso alle Musik der Welt auf Spotify und können bei meinen Ausführungen bloß genervt den Kopf schütteln. Versteh‘ ich gut, mach ich ja selber. Wie kam ich überhaupt drauf? Ach ja, ich bringe ein Album raus: 10 inch Vinyl. „Totte + die Tolstois – Lost in the Supermarket“. Acht Lieder. Zum Probieren perfekt.

So, der Wecker hat wieder geschellt, ich stelle ihn nicht nochmal, biete aber jetzt schon mal einen Ausblick auf die nächste Kolumne, auf die im Dezember: Es wird um Weihnachten und Serienkiller gehen, Aufkleber in Privatwohnungen und um die Verkaufszahlen des oben erwähnten neuen Albums von mir. Alle Themen stehen in Bezug zueinander.

Für diesmal war es das. Ich werde heute keine Kilometer mehr zusammenjoggen, dafür aber Kaffee kochen, den ich aus einer Katzentasse trinke, weil ich gar keine Kaffeeschale besitze. Die sind mir zu groß, da wird der Kaffee so schnell kalt, und kalt ist für Kaffee wie schal für Bier. Darum heißt’s vielleicht auch „Kaffeeschale“? Don’t know, don’t know…

Wie auch immer, wer bis hierhin durchgehalten hat, verdient meinen Respekt. Alle anderen auch, sofern sie respektabel sind. Ich weiß, es ist nicht immer leicht mir mir. Aber manchmal ist Chaos auch Schönheit. In den Staub auf einer Leselampe kann jeder alles dichten. Auf meine schrieb meine Oma dereinst: „Sau“. Auf die meines Kumpels Bruno schrieb er selbst: „Beastie Boys“. Wer von beiden hatte recht?  Wer will sowas entscheiden? Letzter Satz: Ich war übrigens nie auf der Halfpipe.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of LiedermachingDie Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 15. November 2020 veröffentlicht.

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