Juli: Traumreisen und die Angst vor den sechs Saiten

Heute morgen bin ich schweißgebadet aufgewacht und konnte mich kaum orientieren. Also alles wie gehabt, drum hüpfte ich energiegeladen vom Futon, brühte mir einen Kaffee auf und grübelte darüber nach, ob meine Matratze wirklich ein Futon ist. Danach überlegte ich, ob ich joggen, Musik hören oder weiter die Serie „Dark“ schauen wollte und entschied mich für stumpfes Brüten, denn meine Energie hatte ich bereits durchs Futongegrübel aufgebraucht, für Jogging fehlen mir die passenden Muskeln und die Serie „Dark“ ist mir unerträglich, weil ihr Soundtrack so penetrant über die Dialoge gemixt wurde.

Musik konnte ich gerade noch nicht vertragen, denn ich hatte einen Traum zu verarbeiten. In diesem Traum war mein gesamter Körper mit Zetteln beklebt, auf denen diffuse Textzeilen mir unbekannter Lieder standen. Riss ich einen Zettel ab, begann dieser, die jeweilige Zeile fistelnd zu singen, was mich sehr gruselte. Es wurden immer mehr Zettel und  ich kam mit dem Abreißen kaum hinterher, zumal mich stetig mehr schauerte, weil die Stimmen schließlich auch immer mehr wurden. Danach wurde es dann etwas unübersichtlich, weil Zeitreisende ins Spiel kamen, deren Geschwätz ich aber dann nicht mehr verstehen konnte, weil ein enervierender Score permanent ihre Stimmen übertönte. „Zeitreisen, Musik, wenn jetzt noch was von Jogging folgt, gewinne ich den Redundanzpreis der deutschen Drehbuchzunft!“, stöhnte ich und wachte lieber schweißgebadet auf, um enegriegeladen aus dem Futon zu hüpfen, etcpp.

Ich weiß ja auch, woher solche Träumereien kommen: Mich plagt immer noch das schlechte Gewissen, denn zwar bin ich Musiker, verdiene den Job aber überhaupt nicht, weil ich ein fauler Scharlatan bin. Bereits als frischgebackener Sextaner bekam ich Gitarrenunterricht, nachdem ich auf die Frage meiner Eltern, ob ich daran Interesse hätte „Au ja!“ gebrüllt und es sofort wieder vergessen hatte.

Von da an kam viele Jahre jeden Donnerstag ein überaus sympathischer Mann vorbei, der sich wirklich mehr als redlich Mühe gab, mich Noten, Fingerspitzengefühl und Groove zu lehren.

Ich aber blieb renitent, obschon ich nicht absolut untalentiert war, nur eben einfach vollkommen desinteressiert und faul. Ich begriff weder, was ausgerechnet ich mit Musik anfangen sollte, noch, wie ich überhaupt je in diese Gitarrenfalle hatte tappsen können. Ich war da im Grunde genauso reingeraten wie in den DLRG-Kurs am Montag und den Tischtennisverein am Dienstag. Meine Interessen hingegen gingen eher in Richtung Medien, genauer gesagt „Bonanza“ gucken. Das hätte ich problemlos eisern ganzwöchig Vollzeit durchgezogen, ohne das meine Eltern oder ein Gitarrenlehrer mich zur Disziplin hätten drängen müsssen. Im Gegenteil, ich hätte sogar obenauf noch freiwillig Überstunden für „Colt Seavers“ geleistet.

Whatever, Gitarrenunterricht war eine üble Sache, jeden Donnerstag überkam mich die Panik, weil ich selbstverständlich die ganze Woche über keinen Finger an Gitarre und Notenblätter gelegt hatte, während das Zeitfenster bis zur Unterrichtsstunde schmolz wie ein Schneemann in der Sauna und mein Lehrer wahrscheinlich ebenfalls in Panik verfiel, weil er sich gleich wieder anhören durfte, wie sein Trottelschüler versuchen würde, mangels Übung völlig unbekannte Lieder aus dem Stehgreif auf der Gitarre zu performen, ohne dass das auffiel.

Jahre der Angst, Enttäuschung und stiller Wut. Aber dadurch womöglich auch genau richtig, um auf die Punkexplosion vorzubereiten, die dann in mir detonierte. Ich war 15 und plötzlich bekam Musik einen ideellen Wert für mich, der über Schunkeln beim Engtanz hinausging. Sowohl meine Eltern als auch mein Gitarrenlehrer witterten wohl ihre letzte Chance, doch noch irgendeine Form von Enthusiasmus aus mir rauszuquetschen und ich bekam meine erste E-Gitarre. Klar, coole Sache, begeistert lernte ich die Powerchords für „Blitzkrieg Bop“, das genügte mir allerdings auch, um mein Ding durchzuziehen und kurz darauf gaben alle entnervt jeden weiteren lehrversuch auf. Ich fühlte mich dadurch nur bestärkt in meiner Theorie, dass Punk meiner Faulheit einen perfekten ideologischen Überbau lieferte, quittierte voller Elan auch gleich noch DLRG und Tischtennis und verlagerte meine Fernsehinteressen auf Plattenhören und Schülerband.

Die Band hieß „Innocent Persons“, obwohl Frank, unser zweiter Gitarrist „Innocent People“ besser fand, aber das war Quatsch, denn das klang nach „Depeche Mode“ und ging darum nicht klar, zumal die Meinung der zweiten Gitarre auch nicht ernster zu nehmen war als die einer zweiten Geige.

Zum Glück war Frank kein großer Beharrer und ergab sich kampflos unserem Veto, das entschädigte ein bißchen dafür, dass er noch weniger Rhythmusgefühl hatte als beispielweise ein Mensch ohne Rhythmusgefühl. Mein Kumpel Dominik war Bassist und mein damals elfjähriger Bruder Christian trommelte und war eigentlich auch das einzige Bandmitglied mit Talent.

Wir spielten waschechten Punkrock, unsere ersten Songs hießen „Tequila aus Manila“, ein knackiges Funpunklied (Komplett-Text: „Was wollt denn Ihr? Wir wollen Bier! Was darfs denn sein? Wir wollen Wein! Ohoho Tequila aus Manila“), „I want have Fun“, ein Hardcorestück, das in unserer Phantasie den Songs der Dead Kennedys ähnelte und „An den Ufern des Mexiko River“, ein Lied, das wir aus meinem Gitarrenstundenbuch gecovert hatten. Wir spielten die Stücke live via Raummikrophon auf Kassette, betrachteten es stolz als Demotape und tauften das ganze völlig unhörbare Gerausche „Hitler burns in Hell“, denn wir waren schließlich auch eine Politpunkband.

Von da bis zu unserem ersten Auftritt war es natürlich nur noch ein Katzensprung, der Aufstieg war  steil und unaufhaltsam, zumindest steht das so in unserer Biographie, die ich wohlweislich gleich nach Bandgründung fertiggestellt hatte.

Und wäre nicht soeben Frank aus einer nicht näher datierten Zukunft herbeigereist, um mir wegen der Rhythmusmangelunterstellung die Fresse zu polieren und nachträglich aus der Band auszusteigen, hätte sich diese Biographie auch bewahrheitet. So aber war ich genötigt, Liedermacher zu werden, um sympathisch semierfolgreich dahinzumusizieren, ganz ohne Drogeneskapaden und Gossipheadlines mit Debbie Harry, wie es ursprünglich hätte stattfinden  sollen.

Statt dessen quälen mich seltsame Träume voller Komplexe, andauernde Joggingunlust und ein Drehorgelspieler, der seit einer geschlagenen Stunde eine Drehorgelversion von Glenn Millers „In the Mood“ kurbelt, während ich in einem Straßencafé sitze und diese Kolumne schreibe. Immerhin, zumindest ein bißchen Open Air-Feeling in 2020.  Ich lächle ihn an. Jetzt stoppt er die Orgel und kommt zu mir rüber. Er überreicht mir kommentarlos einen Zettel und verzieht sich gleich wieder zu seiner Orgel, um weiterzuorgeln. Ich schau auf den Zettel und bin etwas enttäuscht, dass er nicht fistelt, sondern ich ihn selbst lesen muss.

Da steht: „Du Arsch! Nimm aus Deinem Text die Rhythmusmangelbeleidigung von Frank raus! Ich will zurück in meine Ehe mit Nina Hagen, anstatt hier zu drehorgeln! Gez. Dominik, Ex-Innocent Persons-Bassist“

Zeitreisen sind anstrengend, finde ich, besonders für die Daheimgebliebenen. Na ja, wie ich mich entschieden habe, lest Ihr ja. Früher oder später.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of LiedermachingDie Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 17. Juli 2020 veröffentlicht.

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