Juli 2022: 60 Jahre Campino, 40 Jahre Hosen, 30 Jahre Totte

So, Kinder, die Kolumne fällt diesen Monat aus. Wir haben den 15. Juli, neun Uhr morgens, und ich bin extrem genervt. Mein Youtube-Bauchmuskeltrainer verlangt unmögliche Sachen von mir, zum Beispiel, dass ich mich bewegen soll, dabei hab ich ihn schon vorher gewarnt, dass das heute keine gute Idee ist, überhaupt irgendwas von mir zu verlangen. Ich bin auf Krawall gebürstet.  Das „e“ auf meiner Tastatur klemmt, der Cursor hat sich verselbstständigt und das Pfeilchen titscht wie ein Pingpongball über den Bildschirm, weshalb sich permanent diverse Fenster öffnen, schließen, vergrößern und wieder verpuffen, wahrscheinlich ist Pumuckls Geist in das Teil gefahren, um mich zu entertainen.

Nochmal zum Trainer: Das Video behauptet, man bekäme innerhalb von zehn Tagen einen Superbody, wenn man die Übungen täglich macht. Es sind zehn Übungen je 45 Sekunden und ich habs jetzt mal testweise die letzten drei Tage probiert, also ein Drittel der angeblich benötigten Zeit bis zur Bodyperfektion. Da müsste doch langsam mal eine Entwicklung zu sehen sein, oder?

Na gut, zugegeben, ich habe nur am ersten Tag alle Übungen mitgemacht, aber bei den meisten taten mir danach Rücken oder Brustkorb, bei manchen sogar beides weh, und zum Märtyrer der Körperdiktatur eigne ich mich nun mal eben nicht. Immerhin, den „Käfer“ und die „Stars“ habe ich an allen drei Tagen komplett durchgezogen, gestern sogar beides aufgerundet auf 50 Sekunden, aber wenn ich in den Spiegel gucke, bemerke ich überhaupt keinen Unterschied zu vorvorgestern. Egal wie man sich auch müht, das Leben enttäuscht an allen Enden und Ecken.

Ich wünsche mir insgeheim oft, ich wär so ein Typ, der gerne Gewichte stemmt, während 80er Jahre-Metal aus dem Ghettoblaster dröhnt. Accept oder Helloween oder sowas, ich weiß nicht, was für Metalbands funktionieren am besten zum Eisenfressen? Wahrscheinlich gibt’s da Insidermusik, für jedes Gewicht oder jede Hantel das passende Genre. Slayer fürs Reißen, Iron Maiden für Expander, Meat Loaf für die Pausen, zum Beispiel. Oder Bauch, Beine, Po mit JBO.

Im HipHop werden ja bekanntlich auch viele Muskeln trainiert, aber wenn Farid Bang oder MC Bogy den Soundtrack zum Gewichtheben trällern, sieht das ganze Training immer bloß noch nach Knast oder Mc Fit-Umkleide aus, nie nach Rocky 4. Ich bräuchte das jedoch heroischer, nicht so alltagsdünstend, aber in Wahrheit wäre ich sowieso nur an derlei sportiven Optimierungsmaßnahmen  interessiert, wenn das auch genauso schnell ginge wie in diesen Filmen. In knapp zwei musikunterlegten Minuten müsste der Scheiß schon erledigt sein und ich folgerichtig dastehen wie eine Eins, aber eine Eins mit Muskeln und allem Schnickschnack.

Derzeit bin ich eher eine glatte Zehn, wobei die Null recht passend eine graphische Entsprechung meiner Bauchmuskeldefinition darstellt. Momentan habe ich einen Sixpack in spe. Allerdings gar nicht mehr so viel Spes auf Besserung, denn wenn es irgendwas gibt, was ich lieber mache als Sport zu treiben, dann fast alles.

Wer ja immer noch wahnsinnig trainiert aussieht, ist Campino. Campino ist der Sänger der Toten Hosen, die dieses Jahr ihr 40 jähriges Bestehen feiern. Campino selbst ist diesen Juni sogar 60 geworden.

Viele fanden es darum  auch extrem spaßig, ein klein wenig hämisch auf die Textzeilen „Ich bin noch keine 60 und ich bin noch nicht nah dran, und erst dann werd ich erzählen, was früher einmal war“ aus ihrer wirklich wunderschönsten Hymne „Wort zum Sonntag“ zu verweisen, die Augenbrauen hochzuziehen und süffisant grinsend zu fragen: „Naaa, Campi, und jetzt?“

Fanfreundlich wie die Band ist, haben sie das Nostalgie-Alter nun gleich um zehn Jahre raufgesetzt, aber ich finde das eigentlich schade, schließlich bergen die Zeilen weder Versprechen, noch Erlebnismauer. Im Gegenteil: Alle ihre Platten erzählen doch durch ihre dort festgehaltene Gegenwart bereits für alle Zeiten davon, was früher einmal war. In den besseren Fällen tun sie das sogar  ganz wundervoll. Ihre Alben aus den Achtzigern beispielsweise spülen mir ganze Ozeane an Gefühlen und Erinnerungen in die Sinne und füttern mich mit historischen und privaten Fußnoten, manchmal gar mit Gerüchen. Blöde Bilder, ich gebs zu. Ozeane? Füttern? Pardon, da waren gerade wieder die Möwen aufm Dach und haben hungrig vom Meer krakeelt. Das hat mich abgelenkt.

Jedenfalls: Ich möchte Band und Campino an dieser Stelle herzlichst gratulieren, denn ich weiß, was sich gehört.

Allerdings erwarte ich nun auch, dass sie mir dafür am 14.11. diesen Jahres ebenfalls gratulieren, denn dann wird der flotte Totte 30 Jahre alt.

Tatsächlich, ohne Quatsch. Das ist mir heute Mittag plötzlich eingefallen, und dann habe ich meine ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, weil irgendwo hundertprozentig noch das Plakat von diesem ersten offiziellen Auftritt rumliegen muss. Natürlich habe ichs nicht gefunden, denn damit das passiert, muss ich in Kürze erstmal wieder panisch nach Kontoauszügen oder Krankenkassenbelegen für die Steuer suchen, völlig klar, aber an dieser Stelle reicht ja auch vorerst die Erinnerung.

Am 14. November 1992 trat ich abendfüllend und erstmals als „Der flotte Totte“ auf, in der Bonner Kneipe „Session“, für zwei Mark Eintritt. Der Laden war proppenvoll und der Gig ein großer Siegeszug. Ich muss dazu aber auch erwähnen, dass es zu meiner Schulzeit nicht so besonders schwer war, ein mordsgut besuchtes Konzert auf die Beine zu stellen, denn eigentlich kamen sowieso immer alle drei umliegenden Jahrgänge der Schule zu allen Anlässen, die man in Plakatform auf die Pausenhofmauern pappte.

Um vor leeren Rängen zu spielen, hätte man schon mindestens unseren Direktor Herr Peichert im Vorprogramm auftreten lassen müssen, denn dessen Reden waren aufgrund ihrer absoluten Ödnis allerorts sehr gefürchtet, doch eine Garantie gegen Publikum wäre das auch nicht gewesen.

Heutzutage ist das etwas schwerer, Leute auf Konzerte zu locken, da kann ich von Glück sagen, dass meine Zuschauerzahlen mit den Jahrzehnten in etwa genauso gewachsen sind wie die bei den Hosen. Grob geschätzt müsste ich quantitativ im Vergleich bei etwa 75% vom Publikum der Düsseldorfer Kapelle sein, aber das reicht mir auch vollkommen, schließlich bin ich ja noch zehn Jahre jünger.

Über den Namen „Der flotte Totte“ bin ich übrigens sicher kaum glücklicher als sie über ihren, und ich wäre von alleine auch nie auf die Idee gekommen, mich so zu nennen.

Doch als ich im Mathekurs gerade dabei gewesen war, die Vorlage für das Konzertplakat zu beschriften, intervenierte mein Banknachbar Philipp, „Torsten Kühn“ sei ja wohl ein absolut beschissener Name. No front. Er schlug statt dessen „Der flotte Totte“ vor, und irgendwie schien mir das in dem Moment alles sehr schlüssig. Dämliche Pubertät. Je nun, sei’s drum. Vorher hieß ich „Kühn“ oder manchmal,  origineller: „Kühni“.

Das Konzert war letztlich so gut wie ein Konzert gut sein kann, wenn der Liedermacher da vorne noch nie solo aufgetreten ist, aber sich fest entschlossen hat, mit seinem Repertoire, bestehend aus ungefähr sieben dreiviertel- bis halbfertigen Liedern, mindestens zwei Stunden durchzurocken. Eventuell wäre ein kurzes zwischenzeitliches Scat-Solo von Herrn Peichert doch hilfreich gewesen. Oder ein, zwei Lieder, die ich wirklich komplett bis zu ihrem Schluss hätte durchspielen können. Irgendwas in der Richtung.

Aber es war insgesamt natürlich dennoch ziemlich glorreich, schließlich gab es zum Glück viel  Bier und Freunde, die das Applausspiel mitspielten.

Ich hatte für die Nachwelt vorsorglich das ganze Konzert auf Kassette mitgeschnitten, und das große Glück dabei war sicher, dass die letzte, mit Sicherheit dann qualitativ endgültig unsägliche halbe Stunde fehlte, weil es sich nur um eine 90 Minuten-Kassette handelte. Aber ganz interessant an jener Aufnahme ist eigentlich weniger die Sammlung meiner damaligen Songs von suizidalen Hunden und vögelnden Katern, sondern der Fakt, dass mich spontan mein Kumpel Lutz anmoderierte, mit folgenden Worten: „Nach Herbert Grönemeyer und den Toten Hosen ereilt Bonn nun heute ein weiteres musikalisches Großereignis. Hier ist Totte Kühn!“

Beide waren selbigen Tags anlässlich einer Demo gegen Rechts nachmittags auf der Bonner Hofgartenwiese aufgetreten, und das ließ ein bisschen die ganze Stadt im Spotlight erstrahlen. Ich fühlte gar einen Hauch von Rockstardom durch die Kellerräume des Sessions wehen, der mich erfasste.

Kein Wunder: Immerhin war ich heute quasi zusammen mit den Hosen in Bonn aufgetreten. Und ich wurde sogar im gleichen Atemzug mit den Hosen erwähnt. Wenn auch nur von Lutz, okay. Aber trotzdem: Was für ein Erfolg vor dem ersten gespielten Ton.

Für ein Debüt nicht schlecht,  nicht wahr? Grönemeyer war mir in der Verbindung bestenfalls wurscht, störte mich aber auch nicht besonders.

Nach meinem Konzert schlug ich übrigens eine Einladung zu einer Riesenfete in Bonn-Oberkassel aus und spazierte lieber alleine durch die nächtliche Stadt, um den Abend auf mich einwirken zu lassen. Würde ich auch nie wieder so machen. Saublöd. Alle anderen waren auf der Party. Wirklich alle. Wahrscheinlich sogar die Hosen. Ihr Zehnjähriges feiern mit dem Oberstufenvolk vom Kalkuhl-Gymnasium. Während ich mutterseelenallein durch die leere Stadt schlurfe und einen auf vergeistigt mache. Na ja, Anfängerfehler.

Von allen weiteren Fehlern berichte ich dann die nächsten Male. Vielleicht kläre ich dann auch die Lüge auf, die sich in diesem Text verbirgt. Sie ktzelt mir nämlich gaz schön mein Gewissen. Aber ich habe jetzt keine Zeit mehr dafür. Denn jetzt muss ich lieber erstmal doch noch die liegengebliebenen Bauchmuskelübungen ausprobieren und danach suche ich weiter nach dem Konzertplakat. Ich nehme an, ich habe es unter „e“ wie „erstes Konzert“ abgelegt. Wenn ich jetzt noch wüsste, wo ich es unter „e“ wie „erstes Konzert“ abgelegt habe, wären wir schon einen großen Schritt weiter.

Habt ihr eigentlich gemerkt, dass in diesem Text überraschend kein einziges „e“ fehlt? Der Pumucklgeist hat sich anscheinend aus meinem Rechner verzogen. Vielleicht ist das sein Jubiläumsgeschenk für mich. Kann ja alles sein.

Egal, Pumuckl, Grönemeyer, Campinos Bauchmuskeln, was für ein Chaos hier. So ein diffuses Durcheinander Diese Kolumne räume ich jetzt aber nicht wieder auf, die schick ich einfach so ans Toughmagazine, da müssen die nun durch. Ich werde dafür jetzt ein bißchen laut durchs Leben ziehen. Zumindest bis zehn, dann wird dunkel. Aber bis dahin verschwende ich meine Zeit und  kein Zeitungsknabe wir mir jemals was erzählen, versprochen. Hosen: Ich hab euch lieb. Und Bochum: Ich häng an dir.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 16. Juli 2022 veröffentlicht.

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