Ach ja, ach ja, ein neues Jahr. Was soll ich sagen? Ganz überraschend kam es nicht. Besonders beeindruckt bin ich bislang aber auch nicht. Ganz anders war es beim vorherigen Jahreswechsel: Da lud ich bereits zum Silvesterspätnachmittag hoffnungsvoll ein schmuck komponiertes Liedchen ins Netz, das optimistisch das kommende Jahr begrüßte und so einiges mit 2019 nachkartete, denn so mies könnte 2020 wohl nie werden, da war ich mir sicher. Heuer bin ich lieber etwas vorsichtiger, was Voraussagen betrifft, da weder Welt noch Bewohner den Eindruck vermitteln, aus den letzten Monaten besonders viel sinnvolles mitgenommen zu haben.
Außerdem sind die ersten Januarwochen doch immer ein bißchen emokaterig, nicht wahr? Die trügerische Energie zum Jahresende verpufft meist völlig nutzlos, weil der Alltag einfach exakt so wieder anläuft, wie er sich zur Weihnachtszeit verabschiedet hat. Trotzdem denkt man jedes Mal aufs Neue, dass irgendwas geiles geschieht und der ganze Körper kribbelt vorfreudig.
Doch wem erzähl‘ ich das? Nein, ganz im Ernst: Wem erzähl‘ ich das eigentlich? Liest mich überhaupt irgendwer? Das würde mich doch mal sehr interessieren, denn ich zweifele derzeit doch ziemlich an mir und dem, was ich mache und wofür ichs mache.
Keine Bange, liebe Ghostleser: Das liegt ebenfalls zu einem ordentlichen Teil am Jahresanfang, dann lässt das auch schnell nach und verstärkt sich erst zum Februar wieder.
Genau genommen startete dieses Jahr für mich persönlich entspannt unspektakulär gemütlich mit leichten Glühweinnachwehen und ein paar Folgen „Angel“. Da gabs durchaus blödere erste Januare in meinem Leben. Zum Beispiel vor genau 30 Jahren, das war übel. Außerdem war das gelogen, denn in Wahrheit war das erst ein Jahr später, aber mir gefiel gerade die Idee von einem „Bad-Neujahrs-Jubiläum“, und ich bin zu ungeduldig, um die Story erst nächstes Jahr zu erzählen, außerdem hätte ich dann keine Story für heute, und das wäre allein Jahresvorsatztechnisch ein schlechtes Signal für meine Arbeitsmoral. Also vor genau 30 Jahren: Zwar waren meine Eltern damals über den Jahreswechsel samt Brüderchen auf Ameland und ich hatte sturmfreie Bude, aber leider war Silvester ganz anders gelaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Falls Ihr Euch fragen solltet: Vorgestellt hatte ich es mir geil. Dummerweise lief auf Christophs traditioneller Silvesterfete zum Ende dann etwas schief, genauer gesagt ich, denn ich hatte plötzlich einen Furz im Kopf quersitzen, als die Frage diskutiert wurde, wo noch eine Afterparty stattfinden könnte. Logistisch wäre das bei mir am klügsten gewesen, ich aber lehnte rigoros ab, denn ich wollte den Neujahrsmorgen mit meiner Liebsten in inniger Umarmung erleben, nicht mit meiner Liebsten plus einem Haufen alkoholdurchtränkter Jungs und Mädchen, die beim Musikaussuchen mit glasigen Augen elterliche Rheinweine über meine kostbare Schallplattensammlung schütten. Was ich bis zu meiner Ablehnung nicht geahnt hatte, war, dass meine Liebste dann auch lieber mit den alkoholdurchtränkten Jungs und Mädchen woanders weiterfeiern wollte, als mit mir zu zweit in inniger Umarmung.
Doch ich war schließlich pfiffig, drum wählte ich die sicherste Strategie, um sie von mir zu überzeugen, sprach: „Du kannst ja mit denen gehen, ich geh‘ aber jetzt nachhause!“ und lächelte mein sexiest Lächeln, aber das konnte sie schon nicht mehr sehen, weil sie bereits winkend und johlend mit den anderen um die Straßenecke verschwunden war. Was blieb mir übrig? Die Restnacht saß ich unruhig zitternd in meiner Kellerwohnung und als schließlich die Neujahrssonne aufging, glaubte ich auch nicht mehr so sehr daran, dass sie sich doch noch umentscheiden, auf die Party pfeifen und reuevoll zu mir eilen würde. Der Tag blieb trostlos, ich im Bett, schaute Kopfkino, verließ die Wohnung nur, um schnell eine Pizza Prosciutto bei der Pizzeria Franco zu holen und wartete ansonsten vergebens auf einen Anruf von der Liebsten. In den Vorabendstunden kam ein Freund vorbei, doch er blieb gerade lange genug, um die Pizza wegzufressen und mir zum Abschied tröstend auf die Schulter zu klopfen. Danach war ich wieder mit mir alleine, tat mir leid und hörte in Dauerschleife „Rain“ vom Album „Thrust of the Vile“ von den Waltons, was gar nicht so leicht war, weil ich jedesmal nach dem Song aufstehen, zum Plattenspieler gehen und die Nadel zurücksetzen musste, doch das war es mir wert, denn an jenem Tag war dieser Song mein einziger Freund. Ein guter Freund von einer sehr guten Band, die ich lange verehrte, obschon unser Zusammenwachsen nicht ganz einfach gewesen war. Es muss so um 1987 gewesen sein, und das gegenseitige Plattenausleihen hatte seinen ersten Höhepunkt bei uns. Leider war ich damals noch nicht tief genug in der Ausleiherszene, sondern befand mich nur am äußeren Insiderrand, was bedeutete, ich durfte einen Blick auf die Plattencover werfen, weil ich auch schon ein paar mainstreamige Punkplatten besaß, zum Anfassen war ich aber noch nicht profund genug. In einem Stapel Platten, die Nadja von ihrer älteren Schwester für Daniel mitgebracht hatte, fiel mir ein Cover besonders auf: Drei Herren standen kämpferisch nebeneinander, hielten Säge, Axt und Sense und trugen Karohemden. Der Name der Band: The Waltons.
Ich war hingerissen! Eine Band namens „The Waltons“ war genau das, was meiner Welt noch gefehlt hatte, denn das machte für mich den traditionell holperigen Übergang von Kind zu Mensch viel geschmeidiger. Immerhin waren die Waltons in meiner Kindheit eine meiner absoluten Lieblingsserien gewesen und John-Boy für mich die erste bildlich greifbare Schriftstellerfigur, der ich immer wieder nachzueifern versucht hatte, und nur deshalb stets gescheitert war, weil Tagebuchschreiben unglaublich anstrengend und öde ist. Inzwischen konnte ich die Serie natürlich nicht mehr gucken, weil das schließlich Kinderkram war, aber darob war ich insgeheim untröstlich und um so mehr quoll nun mein Herz vor Freude über, dass tatsächlich eine augenscheinlich supercoole Band mit diesem Namen existierte, denn das rehabilitierte vielleicht sogar die Serie in Punkerkreisen ein wenig. Dass der Bandname auf dem Cover indes in Countrylettern gestaltet war, fand ich allerdings etwas seltsam, ja, fast etwas beunruhigend sogar, denn Countrymusik galt für niemanden als gut. Country assoziierten wir damals mit Truck Stop und Truck Stop waren Bratwurstmänner mit Hüten, die Fideln wie Gitarren hielten. Cash? Nelson? Nie gehört. Was die Waltons betraf, war das für mich gar nicht so leicht herauszufinden, denn obschon ich von nun an bei jedem Besuch in Bonn alle drei Plattenläden regelmäßig nach ihnen absuchte, wurde ich wochenlang nicht fündig. Ich musste also erstmal darauf hoffen, dass die Westernschrift nur ein Gag oder Zufall war und die Waltons in echt totalen Punk spielen würden und kritzelte fortan ihren Namen auf alles, was sich nicht bewegte: Federmäppchen, Bücher, Hefte, Carsten usw.
Ich war gerade im Physikunterricht dabei, den Tisch mit einem besonders schönen „The Waltons“ in Ballonschrift zu verzieren, als es hinter mir plötzlich schimpfte: „Du kennst die doch gar nicht!“
Erschrocken schaute ich mich um. Da saß Nadja und sah mich wütend an. Anscheinend war ihr nach Wochen meiner maßlosen Waltons-Taggerei nun der Kragen geplatzt.
„Das ist voll peinlich! Alles schmierst du voll mit denen!“ schimpfte sie.
„…aber ich find die du gut…“ verteidigte ich mich schwach, doch sie zeterte gleich weiter:
„Du hast die doch noch nie gehört!“
„…dochhabichwohl…“ nuschelte ich, inzwischen puterrot.
„Dann sag‘ doch mal ein Lied! Nur eins!“ Erwartungsvoll blickte sie auf mich herab.
Zum Glück hatte mir Daniel erst vor kurzem auf meine Nachfrage hin erzählt, dass die Waltons unter anderem einen superlustigen Weihnachtssong hatten und kurz den Refrain angesungen.
„Christmastime?“ wiederholte ich, was ich vom Refrain noch wusste, und ich frug es mehr, als dass ich antwortete, aber ich hatte etwas Luft gewonnen, denn anscheinend galt das in Nadjas Ohren als Liedtitel.
„Oh, ein einziges Lied!“ höhnte sie und setzte bereits zum nächsten Verbalangriff an, aber inzwischen hatte auch unser Physiklehrer von unserem Disput Wind bekommen und intervenierte, wozu er übrigens bloß stumm vor uns dastehen musste, denn er sah aus wie der Räuber Hotzenplotz in evil und um ihn rankten sich viele Legenden über gestauchte Schüler. Sein Blick beendete unser Gespräch, ich bekam abschließend noch Reinigungsbenzin und Tuch in die Hände gedrückt und damit verschwand auch das tolle Ballonkunstwerk.
Ich sah in der nächsten Zeit zu, Nadja nicht zu nahe zu kommen, jedenfalls so lange, bis ich eines Tages in Bonn tatsächlich auf das neu erschienene Album „Thank God for the Waltons“ stieß, es aufgeregt heimtrug, auflegte, insgesamt ausreichend punkig im Countryesken empfand und nun echter Fan wurde. Nun hätte ich Nadja ein ganzes Dutzend Lieder aufzählen können, mit genauen Coverbeschreibungen und allem Drum und Dran. Aber sie fragte nie wieder. Ich hingegen blieb heiß auf alle News, die ich über die Waltons bekomen konnte und ich glaubte alles und von jedem: Dominnik erzählte, er hätte in den Sommerferien in einem Plattenladen in Spanien das – Zitat – „Debütdoppelalbum von den Waltons“ gesehen, leider aber nicht genügend Knete dabeigehabt. Sanien? Debütdoppelalbum? Was sollte das überhaupt sein? Egal: Ich glaubte ihm.
Magnus, der Rockabillybub aus der Klasse über uns, behauptete, die Waltons kämen aus Texas, nicht Berlin, wie es auf den Platten draufstand. Ich glaubte ihm.
Ich hätte alles und noch mehr geglaubt, Fakt war aber, dass ansonsten eigentlich keiner mehr was von den Waltons erzählte. Außer mir, versteht sich. Aber da waren für mich keine Neuigkeiten dabei. Die Waltons brachten weiter Album um Album raus und ich blieb Fan und kaufte, hörte, schwärmte. Immer häufiger kleidete ich mich auch in ihrem Karohemden-Countrypunkstil, was aber keinem auffiel, weil ich die gleichen Hemden vorher auch schon getragen hatte, wenn auch nur im „Haben-meine-Eltern-für-mich-eingekauft“-Stil. Mit meinem Vater diskutierte ich zudem meine neue Wirrkopffrisur und argumentierte mithilfe der Bandphotos auf ihren Alben, allerdings ohne dass wir uns einigen konnten. Auch als sie ihren Musikstil änderten und zunehmend metallischer wurden, feierte ich sie. Weil die Waltons auf ihrem Album „Truck me harder“ die australischen Surfpunkrocker Hard-Ons grüßten, wurde ich auch deren Fan. Einzig, dass aus „The Waltons“ irgendwann schlicht „Waltons“ wurde, nahm ich ihnen etwas übel. Aber das ist nur ein kleiner Tropfen Bitterkeit in einem Fluss melodiöser Süße. Die Band gibt es noch immer. Das freut mich irgendwie.
Doch worauf wollte ich eigentlich hinaus? Ach ja: 1. Wird Zeit, dass Country wieder cool wird. 2. Was man taggt, sollte man besser kennen, sonst kommt Nadja. 3. Prost Neujahr zusammen! Und, falls alle Stricke reißen: 4. Take it easy, altes Haus.
Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.
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