Februar 2022: Die Revolution frisst ihre Namensgeber und vergisst die Paprika

„Du blöde Sau, da ist noch was im Schälchen!“ brülle ich empört den Koch an, der soeben ein Schüsselchen geschnittene Paprika in den brodelnden Topf mit gutem Chili geleert, dabei jedoch ein Stückchen Paprika übersehen hat. Das klebt jetzt sichtbar im Schüsselchen. Ich rufe und gestikuliere aufgebracht, doch er hört mich nicht, denn er ist erstens nur in einem Youtubeclip, und zweitens zudem just sehr beschäftigt damit, Wissenswertes über Hülsenfrüchte zu referieren. Zum Beispiel, dass sein Kater Hülsenfrüchte liebt, was mich direkt dazu veranlasst hatte, unsere Katzen Charly und Bernie ebenfalls auf deren Haltung zu Kidneybohnen zu testen. Das Ergebnis veröffentliche ich, sobald ich mehr Facebookabonnements als Whiskas habe.

Zurück zum Koch: Ihn trifft wirklich wenig Schuld an meiner Wut, vor allem, weil ich dieses Video schon ca. hundertmal geschaut habe, und genau wusste, was mich erwartet. Ich schau Youtube ungefähr so, wie andere TV in den Neunzigern; für mich besteht das Videoportal fast nur aus Wiederholungen. Ich bin zu faul für Sucherei und außerdem sowieso auch leid, mich in irgendwas erstmal neu reinfuchsen zu müssen.

Der Koch ist mir sympathisch, doch eigentlich gar kein Koch, sein Hauptaugenmerk liegt viel mehr auf Musik: Schwermetallmusik, aber auch Punkrock und HipHop bespricht er gerne, oftmals auch äußerst profund, wenn man mal davon absieht, dass er die faktisch geniale Gruppe Trio als reine Trashkapelle missverstanden hat. Schwamm drüber, wahrscheinlich hat er sie nur mit Queen verwechselt, das passiert vielen Menschen andauernd.

Der Koch ist unter anderem Sänger der Deathmetalballadenband „Kadaverficker“, deren Lied „Inferno Pommes“ ich sehr empfehle, weil es äußerst schmuck klingt. Oft geht er in seinen Videos auf Konzerte und trinkt Bier, und insgesamt verfügt er über einen weiten Horizont, was mir generell gut gefällt, und auch wenn er bei komplexeren Themen hier und da aufgrund seiner szenetypisch traditionellen „Don’t give a fuck“-Attitude  etwas ungelenk unreflektierte Äußerungen tätigt, sind seine Absichten definitiv ehrenhaft. Dass er zum Thema Fleischverzehr natürlich die klassisch hemdsärmellose Jeanskuttenträgerhaltung hat, dürfte nun so wenig wundern wie ärgern. Aber bezüglich Fleischkonsum regen sich  heutzutage eh ausschließlich Fleischesser auf, zum Beispiel, wenn’s um vegane Würstchen geht, oder um einen Gemüsetag pro Jahr in Kantinen, oder milchfreie Muffins, oder das Wetter oder Greta oder Fußball oder natürlich darüber, dass sich alle Veganer immer über alles gleich so aufregen. Ich bin nur Vegetarier und finde jedwede Aufregung über Nahrungsthemen komplett überflüssig, jedenfalls so lange NIX IN DEN SCHÜSSELCHEN HÄNGEN BLEIBT! Jawohl, Großbuchstaben. Das ist in diesem Fall hipper Stil, das macht Benjamin von Stuckrad-Barre ständig, und ich will jetzt auch endlich berühmt werden, egal wie, soweit runter bin ich schon. Wie traurig dieses Stück Paprika da nun einsam im Porzellanschälchen hängt, während seine Freunde im gemütlich blubbernden Topf Chili fröhlich vor sich hin planschen, da springt mein innerer Monk wie das HB Männchen in wildem Pogo durch meine Magengrube.

Ich erwische mich sogar bei dem Versuch, den Gemüseschnitz mittels Zeigefinger aus der Schüssel zu kratzen, und der Laptopbildschirm dellt sich dabei bedrohlich ein. Womöglich bin ich heute etwas unausgeglichen, denn ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, mein Bett ist total von Salzstangen verkrümelt, und meine Augen brennen vom ganzen Internetgebrauch. Ich habe da einfach zu viel geglotzt und gescrollt und Kommentare gelesen und überhaupt: Ich muss mal vor die Tür, den Kopf freipusten lassen.

Es ist vier Uhr morgens, das passt, da ist wenig los am Deich. Ich jogge durch die Darkness und denk mich dabei frei. Kurz erschrecke ich, als ein Rudel Werwölfe meinen Weg kreuzt, aber dann fällt mir auf: 1. es ist noch Halbmond, und 2.: Werwölfe sind gar keine Rudeltiere, und ich erkenne: Aha, es sind bloß Wer-Rehe, dann passt’s ja. Was für ein Glück.

Allerdings straucheln darüber meine Gedanken, so dass ich wieder mal beim Punkrock lande. Das passiert mir eigentlich immer, sobald ich auch nur kurz gedanklich den Faden verliere, und das vereinfacht das Leben nicht zwangsläufig.

Beispiel Schule, Deutschklausur: „…dass Max Frisch ihn in Homo Faber plötzlich Zigarre statt Zigaretten rauchen lässt, zeigt deutlich seine Wandlung zum Romantiker und solange Johnny Thunders lebt, solange bleib ich ein Punk.“ Auch als ich während der Führerscheinprüfung plötzlich „Deutschland muss sterben!“ skandierend Polizeiautos zu rammen versuchte, war mir das nicht gerade hilfreich.

Apropos „Slime“: Derzeit tummeln sich ja viele Wüteriche in den Kommentarspalten unter ihren neuen Videos, die aufgrund des aktuellen Sängerwechsels zornbebend fordern, die Band solle sich gefälligst umbenennen, sonst sei das Etikettenschwindel. Die Gruppe dürfe zwar gerne neue Musik machen, wenn’s denn sein muss, aber – Zitat – „Slime sind nur Slime mit Diggen, sonst sind Slime kein Slime!“ Soso.

Ich bin doch immer wieder extrem erstaunt darüber, wie vehement die von mir im Grunde so geschätzte gefleckte Freiheitsbewegung einen strikten kulturellen Stillstand fordert. Bei der „Münchener Freiheit“ hat sich das eher konservativ anmutende Publikum jedenfalls nicht annähernd so zornig aburteilend wegen des Frontmannwechsels angestellt. Doch die Anarchieverwalter benötigen anscheinend ein sehr strenges Regelwerk, um ihrer eigenen Nostalgie ungeachtet aller Ströme der Zeit in rebellischer Ekstase frönen zu können. Das ist etwas schade, denn so argumentieren in anderen Belangen eigentlich eher moralisch ergraute CSU-Größen und keine abenteuerlustig buntgepunktete Tellerrandstürmer. Ursprünglich war doch die Abkehr vom Altgewohnten der Urknall des Punk. Rocko Schamonis schönen Satz aus Dorfpunks,  „Mich interessieren Sachen, die ich noch nicht kenne.“, empfand ich stets als gleichermaßen wahr wie ideologisch glamourös. Sozusagen ein Prickelfunkelpunkrockslogan. Wow, das Wort wäre ein  prima T-Shirt-Aufdruck. Eine Veränderung braucht aber nicht automatisch einen neuen Namen, sobald sich ein Detail ändert, denn solange das charakteristische Grundgerüst bleibt, besteht da keine Notwendigkeit. Veränderung ist wie gutes Chili, und auch dessen Rezeptur variiert ständig überall, die wichtigsten Zutaten sind jedoch stets drin, und drum heißt und bleibt gutes Chili auch weiterhin gutes Chili, sogar wenn mal ein Stückchen Paprika fehlt. Auch Slime haben weiterhin ein paar ihrer charakteristischen Zutaten, selbst wenn andere jetzt neu dazugekommen sind oder  gar ein Stückchen Paprika fehlt.

Namen sind letztlich zwar vielleicht nur Schall und Rauch, aber irgendwelche Eselsbrücken braucht man schließlich, sonst kann man nur noch mit dem Finger durch die Botanik zeigen und debil „Da, da, da…“ grunzen, und das gäb‘ Chaos. Natürlich greifen jetzt ein paar traditionsbeflissene Punkrocker triumphierend exakt dieses Argument auf und posaunen sofort: „Ja eben, und Chaos wollen wir doch auch! Also Slime, also Chili: Umbenennung jetzt sofort! Für den Punk und Anarchie!“ Jene haben aber nicht bedacht, dass jede Umbenennung für sie bedeutet, dass neues teures Bandmerchandise für die szenezugehörige Aktualität vonnöten wäre, und das würde wiederum den Kapitalismus fördern. Fiese Zwickmühle. Am besten ist wohl, alle machen sich mal locker.

So breite ich nun die Arme aus und rufe gebietend vom Deiche in die Welt: „Lasst Slime gefälligst Slime heißen, wenn Slime auch Slime heißen wollen! Und lasst auch alle anderen Slime heißen, so sie Slime heißen wollen! Punk sein, heißt Slime heißen zu können, wo, wie und wann wer auch immer Slime zu heißen sich wünscht! Oder auch Chili! Oder Eintopf, Eintopf ist ebenfalls sehr schmackhaft!“ Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Welt das auch genau so übernehmen wird. Egal, ich hab‘ Kohldampf. Auf irgendwas mit Paprika. Blöd, dass mir nichts einfällt.


Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.

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Dieser Artikel wurde am: 23. Februar 2022 veröffentlicht.

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