Auf der Autobahn im Tourbus sitzen und Inspiration suchen. Kein leichtes Unterfangen, überall nur Schweinetransporter und rasende Zeitmaschinen. Ich bin absolut bocklos, hänge auf dem Beifahrersitz und höre mit eingezogenen Ohren den Gesprächen der Bandkollegen aus dem Heck des Sprinters zu. Es geht um Zukunft und Bier, ab und an mischen sich beide Themen, aber ich finde es sehr schön, dass sie sich niemals ausschließen. Neben mir lenkt Kollege Fred souverän das Vehikel, hat aber auf Konversation anscheinend auch keinen rechten Nerv. Das passt, mir fehlen schließlich selber Themen, drum suche ich ja just Inspiration auf der Autobahn. Klingt fast wie ein Lied von Kraftwerk. Andererseits klingt eigentlich alles mit „Autobahn“ drin nach einem Lied von Kraftwerk, oder natürlich Hitler, fraglos, aber Hitler klingt letztlich auch wieder etwas nach Kraftwerk. Kompliziert, ich weiß nicht, wie ich das besser erklären kann, das ist ja jetzt bereits sehr konfus.
Hoppla, Zeitsprung!
Wir haben jetzt den 31ten August, und ich hatte völlig vergessen, dass der August derart weit in den September ragt. Seit der Autobahnfahrt sind tatsächlich fast zwei Wochen vergangen, ich weiß gar nicht mehr, warum wir dort fuhren und wohin und wie lang. Ich weiß jedoch noch, wie es war, nämlich sehr schön, mit herrlich sympathischen und schlauen Menschen, Lampions und Rhabarberschnaps. Und ich bin sehr, sehr, sehr glücklich, dass wir den Abend nicht durch eins jener unseligen Bühnenselfies mit total viel Publikum im Bandrücken entweiht haben. Dieses allgegenwärtige Musikantenpendant zum Porscheselfie ist wohl inzwischen das häufigste Motiv in den sozialen Netzwerken, und ich muss schamvoll gestehen, dass auch ich mich bereits zweimal dazu habe hinreißen lassen. Hernach fühlte ich mich beide Male ein bißchen gelindnert und spürte das dringende Bedürfnis, mich mit Moshpitmatsch einzureiben und abturnende Schelllackplatten ohne Wohlklang aufzunehmen. Andererseits wäre in unserem Fall an jenem Abend ein solches Photo doch ganz knuffig geworden, denn unser Publikum bestach ausschließlich qualitativ, nicht aber quantitativ, und diese Zurschaustellung personeller Lücken hätten alle bestimmt als souveränes Understatement interpretiert. Qualität als Währung, das wär knorke.
Aber alles das ist lange her, ich vergrippte im Anschluss und verlor jede Energie und Schreiblust, war ständig matt und schlecht gelaunt, und nahm täglich ein paar Kilo zu, denn mein Appetit litt keineswegs unter dem Halsgekratze und Nasengeschniefe. Meine einzige körperliche Betätigung bestand darin, ab und an die Katzen in der Hängematte zu schaukeln. Sie mögen das nämlich und kugeln drin rum wie Babys in Planschbecken.
Ich habe neulich etwas festgestellt: Menschen sind schnell gelangweilt, wenn ich von unseren Katzen erzähle. Ihre Augen leeren sich, die Blicke wandern hoffnungsfrei ins Nichts. Das hat mich baß erstaunt, denn das kannte ich bisher nur von mir, und dann aber auch nur, wenn andere Haustiere das Thema waren, nicht unsere. Bei den öden Storys der anderen ist das natürlich auch kein Wunder. Unsere Katzen jedoch sind von ganz anderem Kaliber, sie miauen melodischer und kacken süßer. Säubere ich mit der Siebschaufel ihre Klos, stelle ich mir immer vor, ich sei Goldgräber in Klondike, um der Arbeit etwas mehr Glanz zu verleihen. Ab und an klappt das sogar, dann durchfährt mich wahrhaft ein Glücksschauer bei jedem ersiebten Köttelchen, aber ich will ehrlich sein: Meist fühl ich mich dabei eher wie der Häftling eines Strafgefangenenlagers in Louisiana beim sumpflandgraben, denn stets schleichen währenddessen die Katzen als strenge Kontrollinstanzen um mich rum. Ansonsten sind sie sehr pflegeleicht und zuvorkommend, man muss nur das richtige tun.
Ich bin nicht besonders bewandert darin, das richtige zu tun, ich weiß ja nicht mal, wie man das schreibt: Groß? Klein? Hilfe.
Immer das Richtige, ich schreibe es jetzt mal zur Abwechslung groß, tut meines Wissens Keanu Reeves, jedenfalls behaupten das die Leute im Netz. Sie werden gar nicht müde, ein Bild von ihm zu posten, auf dem er ein Eis ißt. Witzig, ich habe zuerst „ein Eis ist“ geschrieben. Oft rolle ich sonst erhaben herablässig die Augen, lese ich einen Beitrag, in dem jemand „seid“ und „seit“ verwechselt hat, oder eben „ist“ und „ißt“. Jetzt muss ich das fairerweise bei mir auch tun: Ungelogen, ich stelle mich nun gut sichtbar in den Gang des Bahnwagens, schüttle theatralisch den Kopf, rolle die Augen, bis die Pupillen mein Gehirn taxieren, und seufze so laut wie ein Seufzer der Lust. Das war ja was. Zum Glück hat das keiner registriert, weil natürlich alle hier viel zu bahnscheißgenervt in den tiefsten Höhlen ihrer eigenen Seelen hocken, um das Elend der Gleisreise nicht wahrnehmen zu müssen.
Unbemerkt setze ich mich wieder, korrigiere das „ist“ und fühle mich ein wenig heroischer als vorher, weil ich mir selbst gegenüber im Sinne der globalen Fairness so gnadenlos war. Natürlich nicht im Ansatz so heroisch wie Keanu Reeeves, doch man muss ja irgendwo anfangen. Für Keanu Reeves freue ich mich aber, denn laut Artikel unter dem Eisbild macht er ausschließlich tolle Sachen voller Empathie und Uneigennutz, und wenn jetzt nicht die Filme wären, wäre er, glaub‘ ich, mein Lieblingsschauspieler. Aber da sind wieder andere besser. Ich möchte sie nicht nennen, denn vielleicht sind sie mit Keanu befreundet, und wenn sie das hier lesen, benehmen sie sich in Folge ihm gegenüber arrogant, dann zerbricht die Freundschaft daran, und das haben beide nicht verdient, weder die besseren Schauspieler, noch Keanu, schließlich macht er meines Wissens alles richtig.
Lieber zurück zu den Katzen. Eine der beiden, die Dame Charly, mag Musik, was im Grunde ganz zauberhaft ist. Allerdings ist ihr Geschmack schon zweifelhaft. Sie entspannt sichtlich und wiegt ihren Kopf, sobald Celine Dion das Schiff ins Eis lenkt, aber wenn David Bowie becircend von Helden singt, dreht sie durch, sträubt ihr Fell, macht einen Buckel, kotzt Erbsensuppe aufs Parkett und läuft rückwärts die Treppe hoch. Die Kreuze fielen von den Wänden, hätten wir welche.
Ich bin davon nicht besonders begeistert, zwar höre ich David Bowie nur selten, aber noch lieber als David Bowie selten, würde ich Celine Dion nie hören. Doch das geht jetzt nicht mehr, denn seit Charly sie einmal erhorchte, starrt sie dauerhaft derart vorwurfsvoll tiefst enttäuscht in die Welt, bis man es nicht länger aushält, und doch wieder dieses Schrottlied über den ollen Schlepper laufen lässt.
Ich mochte viel lieber Peter Schillings „Terra Titanic“, aber den Genuss schmälerte immer das Bewusstsein meiner moralischen Verkommenheit, denn meine Mutter hatte mir eindringlich erklärt, dass das Verwursten realer Tragödien in tanzbare Populärmusik aus Berieselungs- wie Bereicherungsgründen durchaus fragwürdig sei. Die gleiche Argumentationskette dekonstruierte auch Paul Hardcastles Vietnamhopper „19“, ganz anders hingegen lief die Sache bei Bruce & Bongos Schocksong „Geil“. Hier war weniger die ernste thematische Tiefe das Problem, als vielmehr, was die Nachbarn sagen sollten. Immerhin radelte ich quasi seit Erscheinen des Songs das gesamte Restahr 1986 dauerhaft ausschließlich „B-B-B-Boris is g-g-g-g-g-geil. G-g-g-g-geil!“ stotternd mit quietschenden Reifen durch Oberdollendorf, weil der Song komplett mein Hirn zerkocht hatte und kein anderes Lied mehr in dem Brei Halt fand.
Doch ich war nicht vollkommen verantwortungslos: meinem sechsjährigen, allen musikalischen Neuerungen sehr aufgeschlossenen Bruder Christian erzählte ich wohlweislich, dass ich natürlich nicht den mütterlicherseits verpönten Song „Geil“, sondern selbstverständlich nur den noch neueren unverfänglichen Hit „Gal“ sänge, was er glaubte, aber keinen Unterschied machte, weil auch Christians fortan ständig vorgetragenes „G-g-g-g-gal“ in Mutters Ohren wieder nur nach „Geil“ klang. Und ihr den gleichen Quatsch vom neueren Gal-Hit zu verklickern versuchen, so dämlich war nicht mal ich. Hätten wir beide gewusst, was für Musikdifferenzen auf uns beide noch zukommen sollten, wir hätten sicher beide lieber einen kalten Kakao angerührt und in der Küche zusammen entspannt im Kanon „Geil“ gestottert.
Voll krass übrigens: ich bin inzwischen in Göttingen umgestiegen und sitze jetzt im ICE nach Hamburg.
Das ist natürlich überhaupt nicht krass, doch ich spüre die dringende Notwendigkeit, hier etwas temporeiche Action in die Story zu packen, wobei „temporeiche Action“ und „ICE“ eher ein Paradoxontänzchen miteinander aufführen. So zum Beispiel stehen wir nun seit einer Viertelstunde zwischen Göttingen und Hannover, weil „am Zug was gemacht werden muss“. Ohne Schmarrn, das ist die Ansage: „Am Zug muss was gemacht werden.“
Danach sagte er sinngemäß er „erzähle uns das nur, damit wir uns nicht alle wundern, weil wir jetzt hier stehen.“ Ziemlich lieb vom Durchsagenmann, aber auch weltfern, denn niemand wundert sich, wenn der ICE steht, niemand. Man mag es nicht gern, aber wundern tut sich schon lange niemand mehr.
Ich will aber auch nicht die Bahn bashen, erstens tut sie das selbst am besten, zweitens sind Bahnbasher irgendwie auch nicht viel besser als Kassenschlangenhetzer, drittens habe ich nur die zwei Gründe. Ich will sowieso auch jetzt nicht weiterschreiben, sondern viel lieber ebenfalls stillstehen, im Einklang mit dem ICE und in einer stillen Melodie der Vergessenheit.
Ich weiß, diese Kolumne kommt sowieso zwei Wochen zu spät, dann ist sie auch noch schon wieder so konfus, aber es gibt halt Zeiten, in denen mein Kopf einem „Tedi“ gleicht. Alles stapelt sich zweckfrei irgendwo, ohne Konturen, Plan, und auch ziemlich billig. Aber alles da, auf den ersten Blick.
Einen zweiten verschwendet man sowieso nicht.
Vielleicht verfahrt ihr am besten auch so mit dieser Kolumne? Reingucken, abwenden. Und wenn ihr damit ein paar Minuten abgelenkt wurdet, vom Großmarkt Globus mit seiner ganzen hoffnungsarmen Aufgebrachtheit, und nur den Kopf schüttelt und die Augen rollt, doch statt Seufzer überraschend ein Schmunzler gegen die Lippen klopft, dann wäre das doch gar nicht mal so übel, nicht wahr?
Neue Durchsage vom Durchsagenmann, er wisse leider auch gerade nicht weiter.
Ich liebe ihn dafür fast, bin mir im Moment aber nicht sicher, ob alle Mitreisenden just seine Ehrlichkeit genauso sehr zu schätzen wissen, wie ich.
Aber sei’s drum. Ich jedenfalls werde die Zeit jetzt nutzen: Ich betrinke mich im Speisewagen. Mit völlig überteuertem Riesling, und zwar in der Hoffnung, dass das jetzt genau das Richtige ist, was man tun kann. Des Keanus Eis sei mein Weißwein. Danach singe ich vielleicht das Lied von Celine, und mache ein Selfie, auf dem ich wie Kate &Leo am Bug posiere. Natürlich mit dem Rücken zu den sicher begeisterten Speisewagengästen. Es sind sehr viele und sie sind total gut drauf, denke ich. G-g-g-g-geil. Oha: Da laufen Leute auf den Gleisen. In orangen Westen. Die Speisewagenmitarbeiter munkeln was von „Evakuierung“ und kassieren uns alle ab. Sie sind cool like Icebergchen. Wow. Das kann ja nur bedeuten: Alles wird gut. Mal wieder.
Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.
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