Gute anderthalb Jahre ist es her das wir 100 Kilo Herz zu „Weit weg von Zuhause“ interviewen durften. Nun, gerade mal 18 Monate danach, hauen uns die sympathischen Leipziger mit „Stadt Land Flucht“ ein weiteres Super-Album um die Ohren. Wir nutzten die Gelegenheit und befragten die Jungs zu den Ereignissen der letzten anderthalb Jahre, zum Album und zu vielen mehr.
Hey ihr Lieben von 100 Kilo Herz. Vielen Dank dass ihr euch die Zeit fürs Tough Magazine nimmt. Wobei erwischen wir euch gerade?
Rodi: Wir sitzen gerade gemeinsam im Proberaum und versuchen die neuen Lieder bühnenfertig zu machen.
Ihr seid mit den Aufnahmen von „Stadt Land Flucht“ fertig. Die ersten CDs sind an Magazine ausgeliefert und das Release steht im August bevor. Wir empfindet ihr die Zeit nun zwischen dem Fertigstellen der Platte und dem Release?
Rodi: Bis zum Release ist es gefühlt nicht mehr so weit. Viel spannender war die Zeit zwischen der Aufnahme und der Ankündigung. Was jetzt passiert, haben wir nicht mehr in der Hand.
Schon die letzte Scheibe wurde gut aufgenommen. Wie zufrieden seid ihr aber selber im Nachhinein mit „Weit weg von Zuhause“?
Flecki: Ich persönlich freue mich, wenn die Leute neben den Texten auch Bläserstellen mitsingen. Wenn ich bedenke, wie hemdsärmelig wir die manchmal im Proberaum kurz vorm Studio zusammengeschustert haben. „Pass auf dich auf“ zum Beispiel – da hatten wir lange keine Ahnung, was wir da gerade spielen, aber es klang irgendwie cool. Claas hat dann seine Erfahrung und „Musikerausbildung“ genutzt, das weiterentwickelt und sauber arrangiert. Wenn ich bei manchen Liedern zurückdenke, wie sie entstanden sind und dann sehe, dass Menschen die richtig gern hören und wir da was Gutes getroffen haben, das ist ein sehr schönes Gefühl.
Was hat euch bei den Interviews / Reviews / Gesprächen mit Management, Fans etc. zur letzten Platte am meisten bewegt und beschäftigt?
Claas: Der Zuspruch, der auf unser erstes Album folgte und den ich in diesem Ausmaß nie erwartet hätte. Viele Menschen identifizieren sich mit unseren Titeln, wir haben viele innige, schöne und manchmal auch kritische Gespräche geführt mit Menschen, die unsere Konzerte besucht haben. Und was kann es besseres geben, als dass sich Menschen mit der Musik, die wir machen, intensiv auseinander setzen. Das gibt auch Impulse für die Zukunft.
Auch auf vielen Festivals und Konzerten habt ihr überzeugt. Haben die letzten Jahre das Bandgefüge dadurch verändert?
Falk: Es hat sich schon verändert. Am Anfang waren wir eher ein chaotischer Haufen, mittlerweile gehen wir schon strukturierter vor. Jeder hat seine Aufgaben und natürlich tragen wir jetzt nicht nur die Verantwortung für uns, sondern eben auch für unser Label, die Booking Agentur und so weiter. Da hängt mittlerweile einiges dran.
Wie seid ihr an die neue Platte herangegangen? Erzählt uns etwas zum Songwriting! Wie sind die Songs entstanden?
Rodi: Dieses Mal gab es ein paar kleine Änderungen im Vergleich zur ersten Platte. Beim ersten Album war es oft so, dass Clemens oder Marco ein paar Akkorde in den Proberaum mitgebracht haben und wenn das nach nem Song klang, haben wir das Handy in die Mitte gelegt und diese Skizze da reingespielt. Ich hab mir den Song dann so lange angehört, bis ich eine Textidee hatte. Oder ich hab schon im Proberaum was improvisiert und dann versucht in dem Brei herauszuhören, was ich da geschrien habe. Das Songwriting dieses Mal war anders. Marco hat schon einige Demos zu Hause fast komplett aufgenommen und ich hab darauf schon Texte geschrieben. Dann haben wir das im Proberaum rund gemacht. Clemens hat auch Grundideen aufgenommen, aber nicht so ausgefeilt wie Marco, sondern einfach mit Akustikgitarre. Das hat sehr an die „alten Zeiten“ erinnert. Und was komplett neu war: bei ein paar Songs hatte ich vorher schon Texte und hab dann auch Akustikdemos eingespielt. Beim ersten Album ist kein Text ohne vorherige Songidee entstanden.
Die neue CD gibt es unter anderem auch als Box. Welche Variante der Veröffentlichung liegt euch persönlich am Herzen und warum?
Falk: Da fällt die Entscheidung wirklich schwer. Wir finden alle sehr gelungen. Es gibt einen Aufnäher für die Kutte, ein kleines Spiel für Regentage im Zelt oder auch bei schönstem Sonnenschein, ein Gymbag oder eine Mütze. Wir denken, wir haben insgesamt ziemlich schöne Sachen da reingepackt.
„Stadt Land Flucht“ als Titel bewegt natürlich. Wie kam es zu diesem Titel? Klingt irgendwie auch etwas nach Fortsetzung von „Weit weg von zu Hause“?
Rodi: Eine wirkliche Fortsetzung ist es nicht. Viele der Themen sind einfach in die Stadt umgezogen und der Titel hat sich irgendwie richtig angefühlt.
Wäre „Stadt Land Flucht“ ein Spiel das „„Stadt Land Fluss“ ersetzt. Zu welchem Buchstaben würdet ihr die spannendste Lösung präsentieren? Bitte erläutert eure Antwort.
Marco: Das Spiel gibt es ja tatsächlich und ist Bestandteil unserer „Speciale Boxen“. Eine Kategorie nennt sich „Fluchtursache“ und es ist erschreckend, das es wohl auch da nicht schwierig ist zu jedem Buchstaben eine Lösung zu finden.
CD-Review: „100 Kilo Herz – Stadt Land Flucht“
Nicht nur die Songs gefallen, sondern auch das Cover kann erwähnt werden. Aus Stacheldraht werden Vögel. Wer kam auf diese Idee und was bedeutet euch das Bild?
Falk: Da gibt es keine große Geschichte dazu. Unserer Meinung nach hat dieses Motiv das Album im Kleinen sehr gut erfasst.
Die erste Single heißt „Drei Jahre ausgebrannt“. Erzählt uns etwas über den Hintergrund zu diesem Stück. Wie ausgebrannt sind 100 Kilo Herz denn nun nach Fertigstellung der Platte?
Rodi: Zum Hintergrund gibt es wohl wenig zu erzählen, der Text spricht eigentlich für sich. Ausgebrannt sind wir auf keinen Fall, ich kann aber für mich sagen, dass 2019 das anspruchsvollste und anstrengendste Jahr meines Musikerlebens war. Wir haben parallel zu knapp sechzig Konzerten ein komplettes Album geschrieben. Davon, ausgebrannt zu sein, bin ich noch weit entfernt, aber es sind mehrere Steine vom Herzen gefallen, als endlich der letzte Ton eingespielt war.
„Tresenfrist“ ist eine Nummer, die nachdenklich macht. Wie kam es zu diesem Lied gegen das „bis dich der Tresen frisst“?
Rodi: Ich trage schon seit Jahren eine gewisse Vorsicht gegenüber unbedachtem Alkoholkonsum in mir, begründet in verschiedenen Situationen und Erfahrungen. Es hat sich passend angefühlt, das mal in einen Song zu packen. Es gibt wahnsinnig viele Lieder übers Trinken, gerade im Punkbereich. Mir fehlt da oft der kritische oder wenigstens nachdenkliche Blick darauf.
„Träume (Reprise)“ hört sich autobiografisch an. Welche Geschichte hat diese Nummer?
Rodi: Ich würde sagen „Jein“. Einerseits ist es eine Fortführung von „Träume“ vom ersten Album bzw. gibt es eine Textzeile an der ich angesetzt habe. Andererseits stecken da Momente von mir und von Menschen, die mir sehr am Herzen liegen, drin. Die Welt und die Gesellschaft in der wir leben fordert sehr oft mehr, als einzelne Menschen ertragen können. Und so ein Tag kann sich wahnsinnig lang anfühlen. Das habe ich versucht einzufangen.
Auch „… und aus den Boxen …but Alive“ bleibt im Gedächtnis. Was bedeutet euch diese Nummer und was bedeuten euch But Alive?
Clemens: Es ist schön, mindestens einen weiteren Menschen in der Band zu haben, der einen Bezug und Liebe zu …but Alive hat. Mit …but Alive bin ich groß geworden, der erste Song, der mich an die Band gefesselt hat, war „Vom 3er“ von der „Hallo Endorphin“. Der Song „…und aus den Boxen …but Alive“ war einer der ersten Songs, den wir für die Platte geschrieben haben. Für mich spiegelt dieser Song die Ernsthaftigkeit in den Texten und die Leichtigkeit in der Musik wider. Torben und Marcus haben das bei Rantanplan ziemlich gut auf den Punkt gebracht.
P.S.: Für mich der beste …but Alive Song: 1+1=3 von der „Nicht zynisch werden”
P.P.S.: Ich habe noch einen …but Alive-Pullover und diesen hüte ich wie einen Schatz.
Mit „Scheren fressen“ bezieht ihr klar Stellung. Sicher hat der Song einen Hintergrund. Wer ist für den Text verantwortlich und gab es einen konkreten Anlass, wie dieser Text entstanden ist?
Rodi: Ich bin für alle Texte verantwortlich, die auf dem Album gelandet sind. Und es gab tatsächlich einen konkreten Anlass, nämlich die Interviews, die auf der PEGIDA-Demo direkt nach dem Mord an Walter Lübcke geführt wurden.
Auch Pino von Planlos ist bei „Scheren fressen“ zu hören. Ihr geht mit Planlos auf Tour. Wie kam der Kontakt zu Stande und welche Planlos Songs sind euch persönlich ans Herz gewachsen?
Marco: Das witzige ist tatsächlich, dass ich „Immer weiter“ von Planlos mal in irgendeinem Auto-Werbespot gesehen bzw. gehört habe. Daraufhin habe ich mich erstmalig mit der Band beschäftigt und wie das damals so war, damit mal was im Kaff los ist, hab ich versucht die Band für ein Konzert zu buchen. Und so waren sie dann irgendwann – ich schätze 2006 oder so – das erste Mal im Beatclub in Dessau und seitdem sind wir gut befreundet. Megasympathische Menschen. „Planlos“ haben sich permanent weiterentwickelt und sind sich trotzdem immer treu geblieben. Da jetzt ein paar Songs rauszupicken würde dem Gesamtwerk nicht gerecht werden. Ich mag die Texte von Pino und die eingängigen Melodien. Das Album „Klartext“ gehört meiner Meinung nach bis heute zu den besten deutschsprachigen Punkrockalben. Das Pino auf unserem Album mitwirkt macht mich unglaublich stolz und bedeutet mir echt viel.
Mit „Wenn es brennt“ beendet ihr euer zweites Album. Eine schöne Textzeile ist „Ich weiß nicht, wie weit wir kommen können. Der Tank ist voll und ich bin wach genug“. Wie weit und wie lange möchtet ihr denn mit 100 Kilo Herz weiterfahren. Wann würdet ihr anhalten wollen?
Falk: Wir fahren, solange wir Sprit im Tank haben. Zur Not schieben wir aber auch.
Sicher werden nach der CD-Veröffentlichung Termine, Konzertanfragen etc. zunehmen. Wieviel zeit nimmt die Band derzeit von eurem Leben ein und wie managet ihr das Ganze mit Partnern, Familien, Arbeit, Musik?
Claas: Die Band nimmt einen sehr großen Platz in unser aller Leben ein. Neben Job und Privatleben bleibt da dann kaum noch Zeit übrig. Ohne einen starken Rückhalt in unseren Familien ginge das schon jetzt gar nicht mehr. Irgendwie arbeiten viele Menschen in unserem Umfeld dafür, dass wir uns mit der Band unsere Träume erfüllen können und halten uns den Rücken frei oder helfen uns bei bestimmten Projekten. An der Stelle: ihr seid die Besten!
Bitte entscheidet euch (mit Begründung):
100 Kilo Herz Vs. Alltag
Flecki: Ich entscheide mich da ganz eindeutig …nicht. 100 Kilo Herz ist Teil des Alltags und dadurch kann ich da keine Trennung vornehmen. Wenn das aber eine subtile Frage ist, ob ich mich eher für meinen Lieblingsmenschen oder die Band entscheiden würde, muss ich sagen „Sorry, Jungs“ :-D Obwohl ich alles tun würde, damit sich diese Frage gar nicht erst stellt, denn wie gesagt: Ohne Musik und dieses wichtige antifaschistische Projekt, was wir zusammen betreiben, würde mir verdammt viel fehlen.
Nur für eine Nacht Vs. Tagtraum
Rodi: „Hoffnung“ von Tagtraum. Die meiner Meinung nach beste zweideutige Textzeile in einem Punksong.
Drei vor Fünf Vs Fünf vor Zwölf
Rodi: Da viele Menschen meinen Realismus oft als Pessimismus auslegen, müsste ich wohl fünf vor zwölf sagen.
Stadtleben Vs. Landleben
Clemens: Mittlerweile hat beides seine Vorzüge. Es ist schön in der Stadt zu sein, die Hektik, das Laute, aber auch die Möglichkeiten, alles jederzeit zu bekommen. Auf der anderen Seite steht die Ruhe und Entspannung auf dem Land – immer nach dem Motto „wenn nicht heute, dann morgen“. Wie unwichtig viele Dinge werden. Das Einzige, was nervt: es muss immer wer fahren, wenn mensch mal was machen will.
Festival Vs. Clubshow
Rodi: Festivals machen Spaß, aber ich finde Clubshows angenehmer. Es ist mehr Zeit, um alles vorzubereiten, der Umbau ist nicht so stressig und ich mag es am Ende mit den meisten Menschen noch reden zu können. Und bei Festivals verpasse ich immer zu viele Bands, die ich mir gern ansehen würde.
Was bedeuten euch die folgenden Begriffe?
Zweitwerk
Marco: Es wird gesagt, dass die Zweitwerke von Bands immer schlechter sind als das Debütalbum. Ich hoffe, dass wir das Gegenteil beweisen können.
Rodi: Keine Ahnung, wer dir das gesagt hat, aber die haben alle nichts von „Nevermind“ gehört, oder?
Der Späti
Clemens: Lebensretter. Ich kannte das “früher” nicht, nen Späti. Bei meinem ersten Besuch in Berlin war das ungefähr so:
Ich: Holen wir noch Bier?
X: Ja, Clemens.
Ich: Ok, cool, Netto macht 20 Uhr zu.
X: Können wir auch später beim Späti holen.
Ich: Wo, Späti? Wann macht der zu?
X: *Grinst. Keine Ahnung wie oft ich mich auf den Späti verlassen habe…Brot, Eier, Getränke, alles mögliche. Ich muss sagen, das ist das Einzige, was beim Landleben fehlt. Einen Späti, der bis nach 22 Uhr auf hat, sollte es überall geben.
Songs wie ein Testament
Rodi: Es sollte auf jeden Fall erlaubt sein, sein Testament in Songform abzugeben.
Konzeptalben
Rodi: Fand ich schon immer großartig. Turbostaat haben da mit „Abalonia“ in den letzten Jahren einen Meilenstein gesetzt. Ich hatte schon mehrmals Ideen und Ansätze für Konzeptalben, aber mir fehlt da entweder das Durchhaltevermögen oder die Disziplin.
100 Kilo Herz in 10 Jahren
Clemens: Wollen wir das Stefan beantworten lassen? Alle: Gute Idee! (Anmerkung: Stefan war bei unserem ersten Album als Saxophonist dabei, ist aber mittlerweile leider aus Zeitgründen nicht mehr fester Bestandteil der Band)
Stefan: Ich weiß, die Jungs backen gerne kleine Brötchen und können es immer noch nicht ganz realisieren, dass sie gerade durch die Decke schießen. Daher werden sie es nicht gern hören, aber ich sehe sie in zehn Jahren als Headliner auf großen Festivals. Trotzdem werden sie es weiterhin lieben, in kleinen Kaschemmen im Backstage rumzuhängen und sich selbst treu bleibend Mukke für den oder die „kleine*n Punker*in“ zu machen. Denn das ist letztlich das was zählt und deswegen betreiben sie überhaupt den ganzen Aufwand. Wir werden uns auch dann auf jeden Fall noch im alten Proberaum oder irgendeiner kleinen Leipziger Kneipe treffen und uns dann gemeinsam beim guten alten Sterni an die seltsamen Zeiten erinnern, als es noch Corona und die AfD gab.
Bandleben
Rodi: Die Band ist gerade bei jedem von uns ein großer Teil des Lebens.
Tough Magazine
Clemens: Das läuft doch immer 17 Uhr auf Pro Sieben, oder? (Alle lachen)
Vielen Dank für das Interview. Die letzten Worte gehören euch!
Rodi: Vielen Dank fürs zuhören.
Falk: Und jetzt viel Spaß mit den Simpsons.
Wir bedanken uns bei 100 Kilo Herz für das nette Interview im Frühsommer 2020. Ganz fest die Daumen drücken wir, dass die Tour starten wird und würden uns sehr freuen, die Jungs dort live zu sehen. Bis dahin werden die CDs und die EP in der Tough Redaktion sicher noch die ein oder andere Runde drehen. Wer mehr über die Band wissen möchte, der schaut einfach unter www.100-kilo-herz.com. Viel Spaß dabei!
Interview von Thorsten im Juni 2020
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