Mit „Wolkenschieber“ schlagen In Extremo ein neues Kapitel auf: Sie haben sich über die Jahre als Pioniere des Mittelalter-Rocks etabliert, als Wegbereiter eines einzigartigen Genres, das historische Einflüsse mit modernem Rock verbindet. Mit ihrem neuen Album setzen sie nicht nur musikalisch, sondern auch thematisch frische Akzente. In Extremo sind mehr als nur eine Band – sie sind lebende Legenden, die seit fast drei Jahrzehnten mit ihrem unverkennbaren Sound aus lauten Gitarren, archaischen Instrumenten und epischen Melodien weltweit für Aufsehen sorgen. Ihr neuestes Werk steht im Zeichen des Aufbruchs: „Wolkenschieber“ ist ein Album, das in turbulenten Zeiten Trost spenden und Mut machen soll.
Schon immer stand bei ihren Konzerten ein Gedanke im Vordergrund: Der des Feierns, der Geselligkeit und der Gemeinschaft. Ob bei frühen Mittelaltermarkt-Auftritten oder während großer Arena-Shows rund um den Globus – eine Verbundenheit, die In Extremo in dreißig aufregenden Jahren eng mit ihren Fans in nah und fern zusammengeschweißt hat und der Michael Robert „Das Letzte Einhorn“ Rhein, Sebastian „Van Lange“ Lange, Kay „Die Lutter“ Lutter, André „Dr. Pymonte“ Strugala, Marco „Flex Der Biegsame“ Zorzytzky und Florian „Specki T.D.“ Speckardt auf ihrem 13. Studioalbum ein Denkmal setzen. Abergläubisch ist das trinkfeste Sextett bekanntlich weniger, wie In Extremo im letzten Jahr mit einem schelmischen Grinsen in Form des Vorab-Tracks „Weckt die Toten“ bewiesen haben, mit dem sich die Formation in neu gewonnener Stärke präsentierte. Mit „Wolkenschieber“ schicken die Mittelalter-Rocker nun ihr ungeduldig erwartetes Album hinterher.
In Extremo schöpfen in ihren Songs traditionell aus jahrhundertealten Motiven und Legenden, doch für „Wolkenschieber“ beginnt die Geschichte erst 1874. Damals entdeckte der Berliner Apotheker Schultze nach vielen Experimenten einen „Special-Liqueur“, der schnell als Allheilmittel gefeiert wurde. Sein hochprozentiges Elixier wirkte gegen allerlei Leiden, von Verdauungsstörungen bis zu Melancholie und Liebes-Unlust. Ein bis drei Gläschen dieses Wundermittels – und schon war die Welt wieder ein besserer Ort. Genau dieses Gefühl fängt das Album „Wolkenschieber“ ein: ein Klang- Elixier gegen den grauen Alltag. „Das Leben zu Zeiten Otto von Bismarcks weist viele Parallelen zur Gegenwart auf“, erklärt Bassist Kay Lutter. „Es gab große Armut, Wohnungsnot und politische Unruhen – Zustände, die uns heute nur zu vertraut sind. Auch damals sehnte sich die Gesellschaft nach einem kurzen Moment des Vergessens. Diese Momente der Unbeschwertheit versuchen wir, auf unserem neuen Album einzufangen. Unsere Version des damaligen Trunks: Wolkenschieber 2.4.!“
Mit einer eingängigen Mischung aus Party- und Trinkliedern, kämpferischen Hymnen und bewegenden Balladen knüpfen In Extremo an ihre lange Tradition an und schlagen ein neues Kapitel in ihrer musikalischen Geschichte auf. Die Band hat die neuen Songs in Sebastian Langes Berliner Studio erarbeitet und anschließend in den Principal Studios bei Münster mit ihren Produzenten Vincent Sorg (Die Toten Hosen, Kreator, Fury In The Slaughterhouse) und Jörg Umbreit (Extrabreit, Slime, Fiddler’s Green) aufgenommen. Mit viel Liebe zum Detail und einer guten Portion Humor entstand ein Album, das die Energie und Kreativität der Band auf den Punkt bringt.
Diese dynamische und lebensfrohe Arbeitsatmosphäre spiegelt sich auch im gleichnamigen Opener „Wolkenschieber“ wider, der das Fundament des Albums bildet. Die Band erinnert sich: „DerGrundstein des Songs entstand in nur fünf Minuten im Proberaum. Er repräsentiert das, wofür In Extremo im Jahr 2024 stehen: Zusammenhalt, klare Statements und jede Menge Energie.“ Der Song „Wolkenschieber“ thematisiert die Sehnsucht nach einem einfachen Ausweg aus den Sorgen des Alltags und kritisiert subtil die menschliche Neigung zum Eskapismus, indem er den gleichnamigen Trank als Symbol für den Wunsch nach kurzfristiger Erleichterung ins Zentrum stellt.
Die musikalische Reise geht weiter mit „Weckt die Toten“, einer kraftvollen Hymne des Widerstands, die sich gegen die Resignation der Gesellschaft richtet. Die neu eingespielte Version als Duett zwischen Micha Rhein und Rauhbein-Frontmann Henry M. Rauhbein verstärkt die Botschaft: In Zeiten der Krise ist es unerlässlich, sich zu erheben und für die Zukunft zu kämpfen, anstatt kampflos zu kapitulieren. Der Song spiegelt eine apokalyptische Welt wider, in der die Verrückten das Ruder übernommen haben, und fordert auf, gegen den drohenden Untergang anzutanzen – ein Aufruf zu Mut und Widerstand.
Mit „Katzengold“ erreicht die kritische Auseinandersetzung der Band einen weiteren Höhepunkt. Der Song, der die zunehmende Unfähigkeit unserer Zeit, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden, anklagt, steht für die klare politische Haltung der Band. Kay Lutter beschreibt ihn als einen der politischsten Songs der Bandgeschichte: „Früher hielten wir uns in unseren Texten zurück, aber angesichts der aktuellen Entwicklungen können wir nicht schweigen. Der Song richtet sich klar gegen Spalter, Hetzer und Populisten.“ „Katzengold“ fordert den Hörer auf, sich nicht von falschen Versprechungen und Oberflächlichkeiten täuschen zu lassen.
In Extremo zeigen die Bandbreite ihres künstlerischen Schaffens: vom ironischen Eskapismus des „Wolkenschiebers“ über den kämpferischen Aufruf zur Rebellion in „Weckt die Toten“ bis hin zur scharfen Gesellschaftskritik in „Katzengold“. Jedes Stück trägt seine eigene Botschaft und ist ein klarer Aufruf, sich den Herausforderungen der heutigen Zeit zu stellen – sei es mit einem Augenzwinkern, einem Tanz auf den Gräbern oder einer entschlossenen Haltung gegen die Unwahrheiten unserer Welt.
Ein emotionaler Mittelfinger an alle, die die Gesellschaft spalten, wird im isländischen Feiersong „Ólafur“ einem ausgelassenen Trinklied aus dem 8. Jahrhundert entgegengesetzt, das In Extremo mit modernem Mittelalter-Rock zu neuem Leben erwecken. Das Stück steht für Widerstand gegen gesellschaftliche Zwänge und feiert die ungezähmte Freiheit, die durch Traditionen bewahrt und gleichzeitig in die Gegenwart geholt wird.
„Unser Lied“ bringt dann die Kräfte von In Extremo und Santiano-Sänger Björn Both zusammen und kombiniert mittelalterliche Klänge mit norddeutschen Shanty-Elementen zu einem kraftvollen Stück über Zusammenhalt, Freundschaft und den unerschütterlichen Willen, sich den Widrigkeiten des Lebens entgegenzustellen. Es erinnert daran, dass uns in schwierigen Zeiten vor allem die Verbundenheit und Unterstützung unserer Mitmenschen weitertragen. Mit „Feine Seele“ erkundet die Band auf berührende Weise das Thema Abschied und den Schmerz des Verlustes. Unterstützt von Oliver „SaTyr“ Pade an der Nyckelharpa, wird die melancholische Atmosphäre des Songs zu einem stillen Appell, die kostbaren Momente im Leben wertzuschätzen und sich achtsam zu begegnen, bevor die Zeit uns auseinanderreißt.
Schließlich erscheint der majestätische „Blutmond“ am Himmel – ein düsteres Symbol für die zerstörerischen Kräfte von Wahnsinn und Verrat, die den Menschen in die Dunkelheit ziehen. Der Song ist eine eindringliche Warnung vor den Abgründen der eigenen Seele und kritisiert den Verlust der Menschlichkeit, wenn Macht und Wahnsinn die Oberhand gewinnen.Beim Tagesanbruch nimmt das Album mit „Des Wahnsinns fette Beute“ noch einmal Fahrt auf, unterstützt von Joachim Witt, der dem Song über den aktuellen gesellschaftlichen Wahnsinn seinemarkante Stimme leiht. Der düstere Track kritisiert die entfesselten Kräfte von Chaos und Destruktion in der modernen Welt und lässt den Protagonisten als Verkörperung dieser zerstörerischen Energien auftreten. Die bedrohliche Atmosphäre spiegelt die Entfremdung und den Niedergang menschlicher Werte wider – ein eindringlicher Kommentar zur gegenwärtigen Gesellschaft, die oft im Bann des Wahnsinns steht.
Ein weiteres Highlight ist „Geschenkt ist geschenkt“, ein tanzbarer Track, der Mittelalter-Rock mit elektronischen Einflüssen verbindet und mit seiner spöttischen Ironie das Geben und Nehmen in zwischenmenschlichen Beziehungen hinterfragt. Der Song kritisiert auf humorvolle Weise die Oberflächlichkeit und Widersprüchlichkeit moderner Versprechen und Verpflichtungen. Er ist ein ironischer Spiegel der Gesellschaft, die oft nur gibt, solange es ihr passt, und bei der ersten Gelegenheit ihre Geschenke und Versprechen zurückfordert.
Mit Joey und Jimmy Kelly sind auf dem hymnischen „Aus Leben gemacht“ zwei weitere hochkarätige Gäste aus In Extremos weitreichendem Friends & Family-Umfeld vertreten, deren Wege sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit denen der Berliner gekreuzt haben. „Wir sind nicht nur ewig mit den Kellys befreundet,“ erklärt Basti Lange. „Auch in unseren jeweiligen Biographien gibt es viele Parallelen. Beide Bands haben ihre Ursprünge auf der Straße und wurden in ihren Anfangstagen oft belächelt. Trotzdem – und das darf in aller Bescheidenheit gesagt werden – haben sich sowohl die Kellys als auch In Extremo zu Legenden entwickelt. Wir haben damals ihren Superhit ‚Why Why Why‘ gecovert; nun war es Zeit, unsere Freundschaft endlich öffentlich zu besiegeln.“ „Aus Leben gemacht“ ist eine kraftvolle Hymne an die gemeinsame Geschichte, an Freundschaft und den unerschütterlichen Willen, trotz aller Widrigkeiten aufrecht zu bleiben. Es zelebriert das Leben als ungezähmten Prozess, der Menschen zusammenschweißt und stark macht.
Nach dem kraftvollen Aussteiger-Song „Komm, lass die Welt sich einfach weiterdrehen“ zeigen In Extremo eine nachdenklichere Seite. Der Song ist ein Aufruf, sich von den Zwängen des Alltags zu befreien und die Dinge gelassener zu sehen. Er fordert dazu auf, die Welt einfach weiterdrehen zu lassen und sich selbst treu zu bleiben, statt sich von äußeren Erwartungen lenken zu lassen. Mit einem leichtfüßigen Sound und einer nostalgischen Note ermutigt er, das Leben aus einer neuen Perspektive zu betrachten und die kleinen Dinge zu genießen.
Mit „Terra Mater“ setzen In Extremo schließlich zum an. Der Song erinnert in seiner Größe und Dramatik an epische Kopfkino-Scores von Hans Zimmer und entführt den Hörer auf eine Reise durch die Elemente und Zyklen des Lebens. „Terra Mater“ ist mehr als ein Lied – es ist eine Ode an die Erde, das Universum und die Verantwortung, die wir als Menschen in diesem kosmischen Gefüge tragen. Als monumentaler Abschluss eines Albums, das in seiner musikalischen und textlichen Vielfalt beeindruckt, steht „Terra Mater“ für die Essenz von In Extremo: eine Band, die seit fast drei Jahrzehnten unerschrocken neue Wege geht und sich immer wieder neu erfindet.
„Wolkenschieber“ ist mehr als nur ein weiteres Album in der Diskographie von In Extremo – es ist ein musikalisches Manifest, das die Band auf beeindruckende Weise in der Gegenwart verortet. Die Verbindung von historischen Themen mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen, gepaart mit ihrer typischen musikalischen Experimentierfreude, machen dieses Album zu einem absoluten Highlight. Für mich persönlich ist es ein besonderer Moment, dieses Werk näher zu betrachten, denn durch mein Hobby der Konzertfotografie hätte ich nie gedacht, dass ich irgendwann Texte schreibe und Album-Previews verfasse – und dann als erstes direkt zu solch einem Urgestein der deutschen Musikszene wie In Extremo es ist. Umso mehr freue ich mich, über „Wolkenschieber“ schreiben zu dürfen und die kraftvolle Energie dieses Albums auch live auf der „Wolkenschieber“ – Tour 2024 zuerleben, insbesondere bei ihrem Auftritt in Nürnberg. Es ist ein persönliches Highlight, auf das ich mich riesig freue.
Review von Lukas Pförtsch
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