Cypecore – Make Me Real

Wir schreiben das Jahr 2133. Von einigen wenigen Exemplaren abgesehen hat sich die Menschheit selbst ausgerottet, die Welt ist zu einer lebensfeindlichen, postapokalyptischen Wüste verkommen, in der die Natur völlig verstrahlt ist, menschliche Körper nur mit permanenter technischer Unterstützung überleben können und die letzten Ressourcen bitter umkämpft sind. In diese Welt nehmen uns die vier Herren von CYPECORE mit, die seit 2007 bereits mehrere Konzeptalben vorgelegt haben, deren Handlungen zeitlich stets unmittelbar vor oder kurz- bis mittelfristig nach einem Dritten Weltkrieg angesetzt sind. So auch die nunmehr fünfte Scheibe in ihrer Diskographie, die am 26.4. bei Easthaven Records erschienen ist und den Titel „Make Me Real“ trägt. Es bleibt zu hoffen, dass die Dystopie des Quartetts aus Mannheim auch für unsere unmittelbaren Nachfahren ferne Fiktion bleibt, doch wenn wenigstens die Musikproduktionen in hundert Jahren so klingen wie das neueste Werk von CYPECORE, ist zumindest nicht alle Hoffnung verloren. „Make Me Real“ klingt absolut brachial, und Performance und Mix sind schlichtweg brillant. 

Gemäß der bewährten Rezeptur für solide Konzeptalbum finden sich an Anfang und Ende je ein kurzes Intro und ein Outro, welche die acht Songs des Albums sinnvoll einrahmen. Musikalisch orientiert man sich, insbesondere bei letzterem, am Dubstep. Das passt allerdings wunderbar zu einem stark durch elektronische Klangerzeuger geprägten Album. Mit „Neoteric Gods“ ballert uns die Band den ersten Banger ziemlich erbarmungslos um die Ohren – da ist alles dabei von Doublebass-Gewitter, fiesen Growls, starken Leads bis zu ansprechenden Vocals im Chorus. Martialisch, fett, episch! Mit „Pinnacle of Creation“ legt die Combo nochmal einen drauf, es wird schneller und wirkt stellenweise wie eine postapokalyptisch frisierte Version von SOILWORK. „Doomsday Parade“ greift diese Energie auf, hinzu kommt ein schöner Industrial-Vibe. Das Ding hat auch ziemlichen Ohrwurm-Charakter mit Breakdowns, die ein bisschen an SYLOSIS erinnern. Mit dem Titeltrack „Make Me Real“ fährt die Band die Energie etwas herunter, nun wird es schwer schleppend. Das kommt gut, aber weniger Wiederholungen im letzten Refrain hätten es vielleicht auch getan. Das dämpft die Energie des Albums aber nur geringfügig, denn mit „King Of Rats“ stampft die Band ein fulminantes Brett voller Energie, starkem Breakdown und eingängiger Synthie-Melodie aus dem Boden. Einen weiteren leichten Dämpfer erfährt das Album mit „Fragments“, das zwar auch schön heavy durch die Speaker bolzt, aber nicht an die starken Melodien seiner Vorgänger anknüpfen kann. Das ist nicht weiter schlimm, denn mit “I’ll be Back“ und „Patient Zero“ fahren CYPECORE nochmal alle Geschütze auf und runden die Scheibe mit Industrial-Vibes, starken Electro-Beats, schweren chuggy Riffs und eingängigen Chori stimmig und angemessen ab. 

Tja, auch wenn die Zukunft düster ist – der Soundtrack ist jedenfalls ziemlich stark. Mit „Make Me Real“ hat das Quartett aus „The Länd“ ein weiteres Mal auf ganzer Linie geliefert. Nahezu alle Songs sind durch die Bank stark, und es gelingt der Band, mit hochwertigem Songwriting und glänzender Produktion die brachiale Energie dieses Albums aufrecht zu erhalten. Die Stimmung ist bisweilen nicht so düster, wie es Klappentext und Bandkonzept vermitteln mögen, sodass deutlich wird, dass es der Band vorrangig wirklich um die futuristische, postapokalyptische Erzählung geht und nicht um politischen und gesellschaftlichen Aktivismus für Umweltschutz und gegen Krieg, den man hinter einem solchen Bandkonzept auch vermuten könnte. Das Album sorgt entsprechend wenig für negative Verstimmungen, und es bereitet Freude, in die Welt von CYPECORE einzutauchen. Man muss halt Bock darauf haben. 

Und weil sich für mich Musik am anschaulichsten nach Kategorien einer Weinverkostung darstellen lässt, ergeht durch den Sommelier noch folgendes Urteil: Wenn „Make Me Real“ ein Wein wäre, dann wohl ein tonnenschwerer Rotwein mit Granatensplitter-Ausfällungen und metallischem Nachgeschmack. Sehr gute, aber seltene Traube mit den feinen Aromen von Uran, Plutonium und einem Hauch Cäsium am Gaumen sowie ausgefallenen Tanninen mit Kunstleder-Allüren. Sehr ausgewogen tänzeln Aromen von Rauch, Maschinenöl und verbranntem Fleisch auf der Zunge, und geschmeidig und gierig bewegt er sich, wie von Drohnen getragen, den Gaumen hinunter, wo er wie Treibstoff in der Einspritzpumpe seinen Weg in den Hightech-Magen findet. Sehr langer Abgang, der Lust auf mehr macht, denn das Zeug ist wirklich süffig (oder sollte man sagen: der Verbrauch ist hoch…?). Ein Wein, der seiner Zeit voraus ist – dystopisch, düster, martialisch, dabei aber sehr charakterstark und ausgesprochen rar! Eine Empfehlung – wenn die Stimmung passt.

Autor: Jakob Pflüger

Dieser Artikel wurde am: 20. Mai 2024 veröffentlicht.

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