Freitag abend, 21:30 Uhr. Ich sitze in der Küche, höre HipHop-Podcasts, lasse einen Salbeitee ziehen und freue mich, dass ich heute nicht zum Pogo mit musste. Zwar sprach meine Freundin bereits zur Mittagszeit: „Hör zu, mein Freund, heut‘ geht’s zum Pogotanz!“, doch sie musste bereits grinsen, als sie das sagte, denn uns beiden war klar: Dieser Plan zur abenteuerlichen Abendgestaltung ist wenig mit meinem Naturell vereinbar.
Ich mag Punkrock. Ich mag auch Konzerte und das ganze Drumherum. Aber ich gehe nicht hin, und ich tanz‘ nur allein. Pogo ist dafür jedoch nur mäßig geeignet. Immer fühlt sich irgendwer animiert, mitzumachen. Das nervt. Auch die Lautstärke auf Punkkonzerten widerspricht meiner Vorstellung von gelungenen Ausgehabenden, denn ich rede gern und träume noch lieber.
Punk ist für Träume aber zu laut. Punk ist ja inzwischen fast so laut wie Jazz. Musik, die mich am Träumen hindert, höre ich nur daheim, um nicht wieder einzudösen. Aus müder Langeweile an der Welt und ihren Unterhaltungssendungen. Um mich abzulenken, drehe ich darum die Musik sehr laut auf, am liebsten die der „Dead Kennedys“ oder „Einstürzenden Neubauten“, weil das Musik voller Wahr- und Schönheit ist, aber auch absolute Einzelkindmusik, denn sie fordert alle Aufmerksamkeit für sich allein.
Ich als Hörer, verschwinde dahinter komplett, und das ist auch gut so. Musik ist kein begleitender Unterforderungsrhythmus fürs behäbige Konsumenten-Ego, Musik streckt und schreit und will gewiegt, gefüttert, gepampert werden. Tut man das gut, wächst die Musik, und alles wird besser. Was für Musik gilt, gilt aber natürlich nicht für Musiker. Leider denken die das trotzdem oft und benehmen sich wie ein garstig‘ Roßhaar am Gaumenzäpfchen, widerborstig und würgereizend, das aber – im Gegensatz zum Roßhaar – mit Absicht, und einem wird ganz blümerant vor lauter Zwangsgepudere der Musikerseelchen.
Ich habe schon oft mit MusikerInnen zu schaffen gehabt, und das ist nicht immer ein Vergnügen. Die Backstageräume des Planeten wabern vor lauter feindseliger Profilneurose, denn irgendwann, vor vielen Dekaden, hat irgendein Schlaumeier mal in die Welt gesetzt, dass kreative Geister mehr Raum zur Entfaltung bräuchten. Das war natürlich Wasser auf den Mühlen der krakeelenden Komponisten, und weil Publikum sich vor allem durch devote Begeisterung definiert, müssen inzwischen arme Altruisten für völlig verblödete Rock- und Pop-ProletInnen Gummibärchen nach Farbe sortieren, obwohl es oftmals viel sinnvoller wäre, deren Anlagen etwas leiser zu drehen und ihnen mal gehörig den Unterschied zwischen Lyrik und Larifari zu einzubläuen. Songtexte sind leider oft sehr schlecht. Ob humoristisch oder tiefsinnig, das Gespür der DichterInnen für Timing und Portionierung ist da häufig eher grobmotorisch. Dabei ist übrigens völlig egal, um welches Genre es sich handelt. Ich sag‘ mal so: Eine Pointe gewinnt weder durch Wiederholung, noch durch Absehbarkeit. Eine Parole hingegen schon, ist aber leider selten vielschichtig. Und Tiefe ist nicht deckungsgleich mit Katzenjammer, auch dann nicht, wenn dreitausend Youtubcomments drunter behaupten, dass das Gemiaue „so true“, bzw. „100%“ und Kussmundsmiley ist. Der famose Dichter und Musiker Georg Kreisler schrieb dereinst „Nichts ist so seicht wie deutscher Tiefsinn“, und das lässt sich ziemlich gut auch global weiter ausdehnen. Nun habe ich ja neuerdings das Vergnügen, in einem Pressemedium für Musik zu dilettieren, und möchte darum, bevor man mich wieder hochkant rauspfeffert, die Gelegenheit nutzen, ein wenig zu pöbeln:
Liebe Musikmenschen: Hört bitte auf, langweilige Texte aus hundertfach benutzten Versatzstücken zu stricken. Nachhaltigkeit ist super, aber Texte sind kein Patchworkteppich. Traut Euch mehr zu. Die Ballade „Bullenschweine“ ist schön, aber sie beinhaltet im Grunde alles, was man dazu sagen könnte, darum braucht es eigentlich keine Abwandlungen mehr. Das Thema „Ohne dich“ gibt es in tausendfacher Ausführung, doch decken die beiden Bearbeitungen der „Die Ärzte“ und der „Münchener Freiheit“ so ziemlich das gesamte Interpretationsspekrum ab. Darum überlegt bitte ganz genau, wenn eine Muse auf Eurer Schulter sitzt und flüstert: „Ohne dich, das wäre mal ein duftes Novum als Idee für einen Smashhit!“. Womöglich ist es gar keine Muse, sondern nur das Teufelchen oder Capital Bra. Letzterer könnte zumindest wirklich einen Hit draus zaubern, wahrscheinlich mit Dieter Bohlens Hilfe, womit auch das Teufelchen wieder dabei wäre. Wollt Ihr das wirklich? Oder lieber noch ein zweites mal drüber nachdenken? Vielleicht käme dann ja das Stück „Ohne Bullenschweine“ raus, und das böte immerhin Raum für was ganz Neues. Eine system- wie selbstkritische Mitklatschpolemik zum Schwofen und Skandieren womöglich? Das würde mir gut gefallen. Ich würde glatt mitklatschen und skandieren. Mit selbstreflexiver Rührungsträne im Augenwinkel und der Hoffnung auf Einsamkeitspogo. Denn jenes musikalische Meisterstück wäre nicht für kollektives Geschunkel geeignet, dafür wäre es zu filigran. Jeder würde in individuellem Einklang swingen, und die Zehen aller blieben ungetreten. Die Gruppe, die das Lied präsentierte, würde über Bläser, Streicher und überhaupt keine Chauvigitarren verfügen, dafür aber zwei Bassistinnen und einen Trommler, der mit Besen und Doublebassdrums im Stehen spielte. Die Sängerin wäre Björk. Mindestens.
Aber das sind natürlich nur Träumereien. Und wahrscheinlich ist das auch gut so, denn so gerne ich die oben zusammengeträumte Band hören würde, so selten täte ich das wohl auch. Ganz unananstrengend klingt das nämlich nicht.
Oh, die Haustür wird aufgeschlossen. Meine Freundin kommt zurück, leicht schwankend, aber beseelt strahlend.
„Wie war’s?“ frage ich.
„Oh, ganz gut!“ sagt sie, „besonders die Gruppe Polententanz Provokant ! Ihr Hit heißt ‚Polenten-Pig quieke‘!“ Dann schaut sie mich an und lächelt, und ich lasse den Salbeiteescheiss stehen und hole uns ein Bier, denn wir beide spüren, dass die Welt eine Wundertüte bleibt.
Info: Totte Kühn ist Musiker und Autor. Er ist Mitglied in den Bands Monsters of Liedermaching, Die Intelligenzia und Muschikoffer, spielt aber auch solo. Aus Gründen großer Freizeitvorkommen schreibt er auch Kurzgeschichten. Sein neuestes Buch heißt „Sex, Drugs und Köcherbau“ und ist sehr gut. Sein Pseudonym „Der flotte Totte“ ist weniger gut, aber auch nicht so neu. Totte Kühn lebt in Hamburg und mag, unter anderem, Lemuren.
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super, aber du hast Element of Crime vergessen, die haben „ohne dich“ auch sehr schön interpretiert…